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Inhalt – Philosophisches

Transhistorischer Zustand

Yirmiyahu Yovel: “…daß Geschichte kein Ende haben kann, daß es keinen transhistorischen Zustand gibt, der die vollendete Befreiung des Menschen verspricht. Weltlicher Messianismus ist ein Widerspruch in sich. Wenn er die religiöse Idee der Erlösung in ihrer absoluten Kraft und Fülle überträgt, dann ist er weder weltlich noch wirklich immanent, sondern bleibt einem transzendenten religiösen Ideal verhaftet. Vom kritischen Standpunkt der Endlichkeit aus ist das messianische Reich Gottes auf Erden bestenfalls ein regulativer transzendenter Traum. Betrachtet man die Geschichte der Menschheit als Weg dorthin, sei es, daß dieser Zustand notwendigerweise eintreten soll, sei es auch bloß als ein plausibles Resultat, dann heißt das, daß ein solches Denken, welches vorgibt, eine Philosophie der Immanenz zu sein, den dogmatischen Einfluß transzendenter Religion nicht überwunden hat.”

Was aber heißt zuletzt eigentlich ‘weltlich’? Wir handeln doch von einer Immanenz der Transzendenz zur wirklichen Welt. (Und es gibt hiervon nur eine!) Hier ist also gar kein Widerspruch zwischen zwei Bereichen! Das Irdische hebt sich und löst sich im Geist (bzw. Feinstofflichen), kommt also seiner eigentlichen Bestimmung, seinem wahren Sein zu. Das Weltliche, das Weltsein in unserem Sinne soll ja eben entwickelt werden von der Schwäche seines Seinsstatus (und seiner Abbildhaftigkeit) hinweg zum Hohen, zum ontologisch Höherrangigen. Dies zuletzt eine naturwissenschaftliche Kategorie, keine Ausflucht in diffuse Glaubensgebilde, kein Sich-Verlaufen ins (so benannte) Religiöse: Wir sind nach wie vor ‘welt-existent’, aber nun innerhalb der Eigentlichkeit und vollen Entfaltung, die Welt an Sich ausmacht.
Daher auch ist es in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, dem Theismus verbundene Attributierungen wie etwa ‘messianisch’ zu bemühen. Diese Zuschreibungen verweisen lediglich auf ein Verständnis von zwei wie gegeneinander abgeriegelten Bereichen – nämlich einem Profanen und einem Numinosen – und so wird hier der Gedanke an die Möglichkeit eines Einen gar nicht gefaßt, der einen Existenz, die in allem als Eines drängt, zu sich zurückzukommen und außer dem bereits jetzt in Wahrheit nichts bestandhafte Existenz aufweist. Freilich folgen die üblichen Religionen diesem Verständnis des Einen nicht!
Volkmann-Schluck hingegen über den Neuplatonismus: “Das Sein des Nous ist das denkende ‘Gegenwärtigen’ seines Denkens. Die Wesensbestimmung eines Seienden, das sich selbst in der Vollendung seiner Möglichkeit denkt, erlaubt nun auch eine genauere ontologische Charakteristik der Seele: Sie ist eine defiziente Form der vollen ‘Gegenwärtigung’ seiner selbst.”
So heißt denn auch die Überwindung ihrer Defizienz den Rückgang in die Eigentlichkeit, Beisammenheit eines Numinosen. Die Welt als perzeptiver Modus desintegrierter Geistigkeit – wie wir sie kennen- wird schwinden. Yovels ‘kritischer Standpunkt der Endlichkeit’ muß sich selber aufheben. Der so genannte ‘transzendente Traum’ ist indes nicht weniger als Ausdruck oder Ziel der einzigen wahrhaften Möglichkeit des wirklichen oder verwirklichten Daseins. Sowohl Kant als auch Spinoza wollen dorthin. Dort ist Welt an sich, höhere Welt in höherer Verwirklichung – einzige Welt.

Wahrhafte Gegenwart

Yirmiyahu Yovel: “Spinoza setzt voraus, daß Kultur, Sprache, Sitten und Mentalitäten sich wandeln und entwickeln und dabei ihre entzifferbaren Spuren hinterlassen; und sie münden in der Gegenwart, wo sie uns eine Tradition vermitteln, innerhalb derer eine neue Revolution stattfinden kann. Darüber hinaus versucht Spinoza aus der Bibel den Kern einer quasi rationalen Moral zu entnehmen als Grundlage jener allgemeinen Religion, die er für die Massen bestimmt hat. Das impliziert, daß er Tradition zum Mittel für historischen Fortschritt uminterpretiert. Vergangenheit und Gegenwart sind durch eine Revolution voneinander getrennt, aber auch durch ein hermeneutisches Unternehmen miteinander verbunden.”

Ich assoziiere hier die Intentionen, das Verbindende einer Philosophia Perennis über Kulturen und Zeiten:

“Der US-amerikanische Autor Ken Wilber hat ‘die sieben wichtigsten Übereinstimmungen der immerwährenden Philosophie aller Zeiten, der allermeisten Kulturen, spirituellen Lehren, Philosophen und Länder’, folgendermaßen zusammengefasst:

  1. Der spirituelle GEIST (Gott, die höchste Wirklichkeit, die absolute Seinsheit, die Quelle, das Eine, Brahman, Dharmakaya, Kether, Dao, […]” (usw.)
  2. GEIST muss innen gesucht werden.
  3. Die meisten von uns erkennen diesen GEIST nicht, weil sie in einer Welt der Sünde, Trennung und Dualität leben, in einem Zustand der Gefallenheit und Illusion.
  4. Es gibt einen Ausweg aus Sünde und Illusion, einen Pfad zur Befreiung.
  5. Wenn wir diesem Pfad bis ans Ende folgen, finden wir Wiedergeburt oder Erleuchtung, eine direkte Erfahrung des inneren GEISTES, eine letzte Befreiung.
  6. Diese letzte Befreiung bedeutet das Ende von Sünde und Leiden.
  7. Sie mündet in mitfühlendes und erbarmendes Handeln für alle Lebewesen.” (Wikipedia)

Insofern nun Religion auf dies verweist, bildet sie zeitlose Wahrheit ab. Es ist hier hinzuzufügen, daß eine transzendente Empirie zur Aufnahme dieser Grundlegungen von Beginn existierte und die Religionen kultur-und zeitbedingte Übersetzungen meinen, die aber zum Hinderungsgrund des Transzendenten werden, so sie – wie die meisten theistischen Systeme – den Mensch zu einem personalen Gott in eine Subjekt-Objekt-Relation rücken und damit der spirituellen Teilhabe am einen Prinzip entheben. Wilber subsumiert auch jene unter einer Philosophia Perennis. Dies ist zu kritisieren, denn reduziere diese auf einen etwaigen verborgenen mystischen Unterstrom, bleibt von ihnen zuletzt nichts außer einer Grundintention, für die es keinerlei Überbau (mehr) bedarf, der sie jedoch in ihrer Hauptsache ausmacht und rechtfertigt. Sind aber Tradition, Ritus und Symbol bezuglos geworden, stehen sie nicht mehr im Geist, sie sind wie Netze, die man einst ins Wasser warf, das aber längst abgeflossen ist, so daß sie im Trockenen liegen und nichts einzufangen vermögen.
Die Institution, da sie sich nicht sucht und entwickelt, sondern an ein entrücktes Ens delegiert und sich in entstellender Kolportage ergeht, ist ganz unproduktiv und somit ungeistig. Sie steht außerhalb des Telos zur Aufwärtsentwicklung. Die Zeitlosigkeit, auf die sie rekurrieren will, kann sie in ihrer Verhaftung nicht abbilden. Das hermeneutische Unternehmen braucht die Theismen nicht mehr, so es erkennt, daß Auslegung an verlorene Intentionen ganz hintansteht hinter zukunftsweisender spiritueller Gegenwart und Teilhabe.

Geschichtliche Religion

Yirmiyahu Yovel: “Für Kant ist Geschichte der Prozeß, durch den die Vernunft ihre latenten Kräfte ans Licht bringt und sich allmählich aus der Umhüllung der Sinnlichkeit befreit und die objektive Welt nach ihrem Bilde formt. Eine solche Auffassung von Geschichte ist nicht bloß evolutionär, sondern teleologisch. Geschichte ist nicht einfach ein Übergang von einem Zustand in den anderen; sie verwirklicht ein zugrundeliegendes menschliches Potential oder das Wesen des Menschen: Vernunft und Autonomie. Vernunft hat sich von alters her unter dem Deckmantel von Mythos und Ritual der verschiedensten geschichtlichen Religionen manifestiert. Sie alle sind Stadien in einem alles umfassenden Prozeß und sollten benutzt werden, ihn voranzutreiben. Daher muß man von der Bibel und von den geschichtlichen Religionen ausgehen, sie jedoch aus ihrer Sinnlichkeit, das heißt aus ihrer wörtlichen Form, herausführen.”

Man kann in diesem Zusammenhang also auch bei Kant (oder generell für den deutschen Idealismus) von der Annahme einer Teleologie des Seins und Bewußtseins und so einer globalen oder universalen spirituellen Entwicklung (im Sinne einer Rück-Emanation zum Ursprung) sprechen.
Wörtliche Form und Ritual als vermittelnde Funktion der Religion ist aber bald schon nur schwacher Ersatz für eine Ursächlichkeit als einer Erfahrung des Transzendenten, also eines lebensreellen spirituellen oder geistigen Seins geworden. Dies Transzendente aber wurde ursächlich in schamanischen Gesellschaften noch lange vor den Hochreligionen zum Konkretum; das Sakrament war dort noch kein Platzhalter oder Symbol oder noch schlechterdings – andauerndes theologischen Streitobjekt. Die praktische Entfernung institutionalisierter Religion von einer Gabe des Entheogens zur spirituellen Teilhabe für die Vielen kann gar nicht größer sein, die transzendente Empirie der Gemeinschaft nicht ferner gedacht werden.
Dabei steht die ursächliche religiöse Erfahrung zugleich in der Problematik der zeitenabhängigen Integration. Vernunft soll sie zuletzt durchwirken und in den Kontext der zukünftigen Bestimmung und des Fortschritts stellen. Dies meint nicht weniger als das Menschheitstelos überhaupt! An dieser Stelle: Was Kant geistig deduziert, ist in der Unmittelbarkeit spiritueller Erhebung andererseits schon immer lebenspraktisch vorhanden. Der Mythos aber, als Symbol oder Chiffre eines nun bis zur Unkenntlichkeit Entwundenen, er darf den Blick nicht zu weit nach hinten fesseln um nicht zum Selbstzweck zu werden, denn dann ist er lediglich Hinderung zum Vollzug. Die Aussagen der Theismen sind eben meist nicht brauchbar überzeitlich, sondern sie treffen und vermischen Aussagen über das Überzeitliche aus ihrer zeitlichen Verhaftung heraus und schauen so in die falsche Richtung. Und je mehr Zeit, Sinn und Ursächlichkeit also vergeht, desto größer die Entstellung und die Entfernung von aller geistigen (Spirit) Intention.

Überzeitlicher Dualismus?

Yirmiyahu Yovel: “Kants Überzeugung, er könne der Moral eine absolute Begründung geben, führte ihn über Immanenz und den von der Kritik eingegrenzten Raum hinaus, denn er setzte (wie bei der Erkenntnis) ein einziges, zeitloses Paradigma menschlicher Vernunft als gegeben voraus, das Geschichte nur zu erklären hilft; aber nicht beeinflussen kann; und er gründete die Moral (anders als die Erkenntnis) direkt im ‘Noumenalen’. Dadurch verwandelte Kant die Transzendenz aus einem leeren Horizont in den konstitutiven Grund moralischer Imperative und ihrer angeblich überzeitlichen Universalität.
In der Frage der Normativität vertritt Kant also eine dogmatische Auffassung der Immanenz, Spinoza dagegen eine kritische. Bei Kant kann Vernunft nicht wie bei Spinoza als Teil der aktualen Welt verstanden werden, sondern sie bildet darüber und außerhalb eine zweite, selbständige Welt, wobei der Mensch als ‘Bürger’ an beiden Welten teilhat. Es handelt sich hier um einen säkularen Überrest des christlichen Dualismus, wonach der Mensch mit einer vom Himmel stammenden göttlichen Fähigkeit ausgestattet ist.”

Was hier als säkularer Überrest eines überzeitlichen Dualismus benannt wird, ist aber zuletzt als starker Hinweis auf die einzige Bestimmung, ein einziges Sein zu nennen – denn ‘beide’ Welten kommen ja in eine! Dies impliziert selbstredend auch eine Zurückweisung derjenigen religiösen Systeme, die Transzendenz in Subjekt-Objekt-Relationen setzen.
Denn Volkmann-Schluck über die Seele im Neuplatonismus, über uns als Menschen: “Denn nichts anderes als eine Abspiegelung des Nous kann das Seelesein sein, weil der Nous keine Einbuße an Sein erleidet, wenn die Seele sein Innesein der Eide in der dianoetischen Vollzugsform des Übergehens vom einen zum anderen vollzieht.”
Nun meint eine Abspiegelung eben auch, daß diese gar kein eigenes Sein hat, und dies heißt so im Umkehrschluß, die Seele ist in Wahrheit Geist.
Nochmals Volkmann-Schluck: “Das Verweilen im denkenden Innesein der Ideen steht der sich in sich selbst hineinwendenden Seele bei Plotin offen, durch den Aufstieg zum Nous gewinnt sie ein neues, übermenschliches Seinsbewußtsein.”

Dieses Seinsbewußtsein konstituiert sich über unserer Welt – zur eigentlichen Welt. Kants zweite Welt ist unser eigentliches Sein. Daher ja auch verblasst die erste.
“Für Kant ist Geschichte der Prozeß, durch den die Vernunft ihre latenten Kräfte ans Licht bringt und sich allmählich aus der Umhüllung der Sinnlichkeit befreit und die objektive Welt nach ihrem Bilde formt.”
Ein Dualismus ist ja demnach nur sinnlich evoziert und hebt sich auf in der einen Welt, so die perzeptive Desintegration überwunden wird.

Utopia, Dystopia

Heinrich Heine:
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten,
(…)
Es wächst hieniden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nichtminder.

Da ist wieder Heines ‘Spinozismus’: Die imaginäre Welt eines Jenseits soll abgeschafft und das irdische, materielle Leben in einen spirituellen Zustand erhoben werden,” (Yirmiyahu Yovel)

Die Zeilen implizieren, daß ein ‘Elysium’ auf dem Gleichheitsgedanken der Menschen zu gründen hat.
Hierzu C.G. Jung:
“Der Gedanke einer Gleichartigkeit der bewußten Psychen ist eine akademische Chimäre, welche die Aufgabe eines Dozenten vor seinen Schülern vereinfacht, die aber vor der Wirklichkeit in nichts zusammenfällt. Ganz abgesehen von de Verschiedenheit der Individuen, deren innerstes Wesen durch Gestirnsweite geschieden ist vom Nachbarn, sind schon die Typen als Klassen von Individuen in sehr hohem Maße voneinander verschieden, und ihrer Existenz sind die Verschiedenheiten allgemeiner Auffassungen zuzuschreiben.
Um die Gleichartigkeit der menschlichen Psychen aufzufinden, muß ich schon in die Fundamente des Bewußtseins hinuntersteigen. Dort finde ich das, worin alle einander gleichen. Gründe ich eine Theorie auf das, was alle verbindet, so erkläre ich die Psyche aus dem, was an ihr Fundament und Ursprung ist. Damit aber erkläre ich nichts von dem, was an ihr historische oder individuelle Differenzierung ist. Mit einer solchen Theorie übergehe ich die Psychologie der bewußten Psyche. Ich leugne damit eigentlich die ganze andere Seite der Psyche, nämlich ihre Differenzierung von der ursprünglichen Keimanlage. Ich reduziere gewissermaßen den Menschen auf seine phylogenetische Vorlage, oder ich zerlege ihn in seine Elementarvorgänge, und wenn ich ihn aus dieser Reduktion rekonstruieren wollte, so käme im ersteren Fall ein Affe heraus und im letzeren eine Anhäufung von Elementarvorgängen, deren Zusammenspiel eine sinn-und zwecklose Wechselwirkung ergäbe.”

Der Anspruch für eine Gleichheit ist so eine Reminiszenz an die tiefste Vergangenheit und zugleich Impetus zur Progression zur Erfüllung einer ‘Utopia’ des Numinosen. Utopia, weil dieser Urzustand in fernster Zukunft liegt (Platon: Lernen ist Erinnern) – hinter diesen zeitlichen Setzungen aber steht ewige Gegenwart, totale Vergegenwärtigung. Die Instanzen der Religion lassen diesen Zugang nicht zu und fungieren hier wie ‘dunkle Hüter der Schwelle’. Die säkularen Ersatzsysteme indes produzieren Immanenzüberschüsse, die zwangsweise ein Dystopia hinaufbeschwören.

Fluktuierende Substanz

Yirmiyahu Yovel: “Hegels Kritik stützt sich auf systematische Implikationen der Lehre Spinozas, nicht auf seine explizite Position. Da Spinoza von absoluter Einheit und Identität ausgeht und ihm eine dialektische Logik fehlt, ist er, so behauptet Hegel, nicht imstande, an der Wirklichkeit besonderer, endlicher Dinge festzuhalten. Seine Totalität wird zu einem übermächtigen Prinzip, in dem alle Unterschiede verwischt sind. Diese unbegrenzte Totalität läßt keine wirklichen Unterscheidungen im Universum zu, nur modale Variationen desselben. Was immer uns unterschieden und spezifisch erscheint, ist so nur aufgrund ‘äußerer Reflexion’ – und nicht kraft seines objektiven ontologischen Status. Nur die an sich (in se) existierende und durch sich (per se) erkennnbare Substanz ist ein wirkliches Individuum, wobei die endlichen Modi nur vorübergehende und fluktuierende ‘Affektionen’ oder ‘Zustände’ dieser einzigen Substanz sind. Hegel meint Spinozas Unfähigkeit, dem Reich des Endlichen gerecht zu werden, wenn er sagt, bei Spinoza gebe es ‘zu viel Gott.’ “

“Unbegrenzte Totalität und ihre modalen Variationen”: Das mutet geradezu buddhistisch an. Die “äußere Reflexion” übersetze ich indes mit Perzeption, was heißt, Welt wird kreiert aus der Ganzheit eines Bewußtseinsstroms (der Emanation). Letztlich wird man ‘dem Reich des Endlichen’ dann gerecht, wenn man beides in den Blick nimmt: Das offensichtliche (sic) Dasein der Weltlichkeit und ihrer Dinge, zum anderen aber ihre tatsächliche und totale Nicht-Festigkeit und Variabilität. Die Modalität der Welt wird insofern ontologisch aufs Äußerste reduziert, aufgrund ihrer Bestimmungs-Ferne auch negativ konnotiert: Das Hiesige als ein kläglicher Restbestand des Daseins, das sich hier zur (vermeintlichen) Lebenswelt dargeben mag. Signum dieser Kläglichkeit ist gerade der Sachverhalt, daß wir die Möglichkeit und Anlage zum Ausgang nicht mehr kennen (wollen) und Wissen wie Vertrauen um die Beständigkeit und höhere Art unseres Seins ganz verloren zu haben scheinen. Wie mag man nun einen Unterschied der fluktuierenden Affekte Spinozas und Hegels dialektischer Substanzialität konsequent als verschieden klassifizieren? Beide treffen sich schließlich an einem gewissen Punkt, wo auch Substanzielles, Dialektisches eine quasi-nichtexistente Natur offenbart bzw. ihre rein geistige Modalität und Relativität verrät. Wir sprechen dort von einer Dialektik des Nicht-Vorhandenen.

Das Genie

Arthur Schopenhauer: “Die überwiegende Fähigkeit zu der Erkenntnisweise, aus welcher alle echten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet. Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die (Platonischen) Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntnis liegen. Dementsprechend hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehn und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die Phantasie vermittelt. Auch macht sich hier schon die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent bemerkbar, als welches ein Vorzug ist, der mehr in der größeren Gewandtheit und Schärfe der diskursiven als der intuitiven Erkenntnis liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die übrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an als sie alle, wiewohl nur, indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.”

Das Genie schreitet nicht deskriptiv zur Tat, sondern es ist ganz und gar schöpfend und erschließt so dabei Neues. Eigentlich befasst sich das Genie ausschließlich mit Neuem, mit neuer Form, die bisher ihrer Findung harrte. Der “platonischen Idee” wird sich in ihrer Weite und Varianz angenähert, viel eher als in ihrer vorfindlich-bekannten Explikation; man kann auch sagen: Die Idee wird neu expliziert. Das ganze Künstlertum meint so Findung , und noch besser gesagt: es ist seiner ganz Art nach ein ausnahmeloses Suchen und Streben.
“Das Genie hingegen schaut eine andere Welt “: Anders als Schopenhauer möchte ich in der Hauptsache darauf abstellen, daß diese Welt des Genies nicht die Intensivierung und Klärung oder Steigerung der Sicht auf das uns Umgebende bedeuten soll, – denn dies ist nicht das Andere! – sondern das Genie stellt etwas her, was dieser Welt bisher unbekannt, gar nie bedacht und offenbar nie angehörig war. Jedoch dies nur vermeintlich: Denn wie ein Entdecker ein fremdes Land erreicht und kartographiert oder ein Erfinder ein nicht für möglich gehaltenes Ding in die Welt setzt, das vorher nicht war, so erschafft das Genie in der Kunst eine neue Darstellung, eine unbekannte Gestalt, die doch zum Ganzen, zur ganzen Welt – die ihrem Ausmaß jedoch längst nicht bekannt ist, gehören muß. Das Genie charakterisiert sich so durch den Drang, Welt zu erschließen, daher ist es unruhig, strebend – und daher auch wird es als Genie erkannt, weil jedem Einzelnen im Tiefsten eine Ahnung dieses Strebens zugrunde gelegt ist.
So auch kann Angelus Silesius über diejenigen, die dem Geiste besser verwandt sind, sagen:
“Die Selgen dürfen sich, daß sie nie satt sind, freun;
Es muß ein süßer Durst und lieber Hunger sein.”

Die Tiefen des Innen

Arthur Schopenhauer: “Daß moralische Untersuchungen ungleich wichtiger sind als physikalische und überhaupt als alle andern, folgt daraus, daß sie fast unmittelbar das Ding an sich betreffen, nämlich diejenige Erscheinung desselben, an der es, vom Lichte der Erkenntnis unmittelbar getroffen, sein Wesen offenbart als Wille. Physikalische Wahrheiten hingegen bleiben ganz auf dem Gebiete der Vorstellung, d. i. der Erscheinung und zeigen bloß, wie die niedrigsten Erscheinungen des Willens sich in der Vorstellung gesetzmäßig darstellen. – Ferner bleibt die Betrachtung der Welt von der physischen Seite, so weit und so glücklich man sie auch verfolgen mag, in ihren Resultaten für uns trostlos: auf der moralischen Seite allein ist Trost zu finden: indem hier die Tiefen unsres eigenen Innen sich der Betrachtung auftun.”

C. G. Jung: “Wie die Seele sich nach unten in die organisch-stoffliche Basis verliert, so geht sie nach oben in eine sogenannte geistige Form über.”
Und: “Daß die Welt nicht nur ein Außen, sondern auch ein Innen hat, daß sie nicht nur draußen sichtbar ist, sondern auch in zeitloser Gegenwart aus dem tiefsten und anscheinend subjektivsten Hintergrund der Seele übermächtig auf uns wirkt, halte ich für eine Erkenntnis, die unbeschadet der Tatsache, daß sie eine alte Weisheit ist, in dieser Form es verdient, als ein neuer weltanschauungsbildender Faktor gewertet zu werden.”
Dies Innen schreitet hinab ins Unbewußte auf den Grund der Person und darüber in die noussphärische Ebene der geistigen Konzepte. Dort ist die Apriorie zur Erscheinungswelt. Die Durchdringung des Materiellen und des Objektes auf seinen Grund verbindet uns mit dem Geist – an dem wir freilich allgegenwärtig anteilig sind – und hierin besteht wahrhaft der Trost: dem wir – bei aller Entfremdung – nachspüren können so wir nur bereitet sind hierfür, und dem wir uns angleichen. Die Trostlosigkeit aber aller physischer Betrachtung beruht auf unserem Wunsch zur Perpetuierung des Vorfindlichen.

Weltbetrachtung

Arthur Schopenhauer: “Unter der festen Rinde des Planeten nun wieder hausen die gewaltigen Naturkräfte, welche, sobald ein Zufall ihnen Spielraum gestattet, jene mit allem Lebenden darauf zerstören müssen; wie dies auf dem unsrigen wenigstens schon dreimal eingetreten ist und wahrscheinlich noch öfter eintreten wird. Ein Erdbeben von Lissabon, von Haiti, eine Verschüttung von Pompeji sind nur kleine schalkhafte Anspielungen auf die Möglichkeit. – Eine geringe chemisch gar nicht einmal nachweisbare Alteration der Atmosphäre verursacht Cholera, gelbes Fieber, Schwarzen Tod usw., welche Millionen Menschen wegraffen; eine etwas größere würde alles Leben auslöschen. Eine sehr mäßige Erhöhung der Wärme würde alle Flüsse und Quellen austrocknen.”

Hier aber kommt das anthropische Prinzip zur Geltung – denn das Gesagte läßt zuletzt gar keine negative oder positive Bestimmung erkennen, sondern behandelt nur die Art der Position, von der aus wir zu argumentieren befähigt sind. Im Mittel immerhin gibt die Welt eine Bedingung her, die uns erlaubt, über sie (derartige) Betrachtungen anzustellen; So lange sie überhaupt bewußtes Leben hervorbringt, so lange besteht auch eine Reflektion über ihre entsprechenden Bedingungen, – und wir können schlicht gesagt nur daher solche Betrachtungen in einen moralischen oder wertenden Kontext stellen, weil wir eine Befähigung besitzen, an der wir jene (‘ethisch-ambitionierten’) Ambiguitäten betrachten, die aus uns selber stammen und aber -hier das Menschheits-Telos – dabei eine bessere Ermöglichung in Betracht ziehen wollen. Umso mehr ist unter dem Gesichtspunkt einer Anlage zur Progression entsprechend Entscheidung gefordert: Ein Weg führt hinauf zum heilsamen Zustand, der andere führt schlicht ins Nichts. Solche Entscheidung meint Konsequenz und Disziplin zu innerem Aufbegehren gegen die ganze Gravität des vermeintlich lebensvollen Daseinszustandes, gegen den ihm inhärenten Hang zur Destruktion und dann zur Komplettierung, Heilung und Vollendung der eigentlichen und höheren Natur. Dieser Vorgang aber gebiert ein ganz anderes Weltsein, das den Gesetzen der Stockung und des Verganges nicht mehr unterworfen ist, da dieses nicht mehr auf dem (trägen) Materie – und Teilchenbegriff beruht, sondern feinstofflicher höherer Art gehorcht, die in sich lebt ohne Ausgang in die Masse und ihre ganze zugehörige Defizienz. Die moralische, ethische Konnotation gebiert – so utopisch dies klingen mag – eine Transzendenz, die immanent wirksam ist und Welt überhöht bis hin zu ihrer Aufhebung.

Bestmögliche Welt

Arthur Schopenhauer: “Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntnis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht, und einen um so höheren, je intelligenter er ist – dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.”

Im Sinne des Wortes: “Bestmöglich” aber ist diese Welt nur der Notwendigkeit nach, daß sie Reflektion unseres Bewußtseinsstandes und so Bild unserer eigenen geistigen Evolution oder Progression dargibt. Sie ist somit die bestmögliche Hervorbringung des Menschen. Somit ist die Welt in toto wesenhaft aktual nur zu ihrem Status Quo befähigt und liegt so unterhalb etwaiger subjektiver Erwartung, und man könnte dabei schon darüber positiv gestimmt sein, wenn sie sich nicht ihrer ganzen Möglichkeit zum Negativen (des menschlichen negativen Potentials) entfaltet. Also nicht wie bei Leibniz ein Gott hat die Welt eingerichtet – dies wäre in der Tat angesichts ihrer Defizienzen absurd – sondern sie ist eben Widerhall unseres eigenen schwachen und unentschiedenen Seins, eines Geistseins, das sich nicht mehr als Geist erblicken mag – und so ist die Welt dabei im moralischen Sinne ebenso wie auch auf ihre Physik bezogen absolut hinfällig. Der Schmerz aber, der hierüber qua Geburt zum innersten Repertoire des Menschen gehörend sich auf mannigfaltigste Weise regen mag, ist zugleich Indiz über seine Möglichkeit oder Befähigung zur Selbst- oder Weltüberwindung. Er meint einen Aufschrei der Seelen-Potenz gegen alle hiesige Erbärmlichkeit und einen Aufruf zur hohen Verortung, die uns vom Hier aus so fern und verloren erscheint. Die ‘Bestmöglichkeit’ der Welt aber steht und fällt mit unserem Willen zum Geist.
Angelus Silesius sagt sehr passend: “Gott läßt dich jede Zeit gar gern in’n Himmel ein; Es stehet nur bei dir, ob du willst selig sein.”