Kinder der Unwissenheit

Arthur Schopenhauer: “Religionen sind Kinder der Unwissenheit, die ihre Mutter nicht lange überleben. Omar, Omar hat es verstanden, als er die alexandrinische Bibliothek verbrannte: sein Grund dazu, daß der Inhalt der Bücher entweder im Koran enthalten oder aber überflüssig wäre, gilt für albern, ist aber sehr gescheit, wenn nur ‘cum grano salis’ verstanden, wo er alsdann besagt, daß die Wissenschaften, wenn sie über den Koran hinausgehn, Feinde der Religionen und daher nicht zu dulden seien. Es stände viel besser um das Christentum, wenn die christlichen Herrscher so klug gewesen wären wie Omar. Jetzt aber ist es zu spät, alle Bücher zu verbrennen, die Akademien aufzuheben, den Universitäten das ‘pro ratione voluntas’ (für die Gründe steht der Wunsch) durch Mark und Bein dringen zu lassen – um die Menschheit dahin zurückzuführen, wo sie im Mittelalter stand. Und mit einer Handvoll Obskuranten ist da nichts auszurichten: man sieht diese heutzutage an wie Leute, die das Licht auslöschen wollen, um zu stehlen. So ist denn augenscheinlich, daß nachgerade die Völker schon damit umgehn, das Joch des Glaubens abzuschütteln: die Symptome davon zeigen sich überall, wiewohl in jedem Lande anders modifiziert.”

Nun dauerte es nach Schopenhauers Tod noch einmal einhundert Jahre, bis das Säkulare (das ‘Lockern und Lösen vom Religiösen’) gesellschaftlich besehen konkrete Form annehmen konnte (dies gilt vornehmlich für West-Europa, vornehmlich für die christliche Konfession), aber dies geriet eben nur zum Momentum, denn – ganz anders als erst erwartet – ist dieser Entwicklung keine anhaltende Fortsetzung beschieden: zum Einen sind andere religiöse Überzeugungen näher- und eingerückt, sie nutzen ein so definiertes ‘Vakuum’ an Überzeugung, ein plötzliches Fehlen trutzhafter tradierter Mitgliedschaft, was allerdings nur als solches Fehlen betrachtet werden kann, wenn Selbstdistanz und Reflexion als Schwäche auffassbar sind und zudem die nun ‘säkularisierende’ Gesellschaft wiederum schwach genug ist, solche (eigentlich unterlegene), doch nach höchster Dominanz strebende Auffassung grenzenlos zu dulden.
Ein zweiter, noch wichtigerer Aspekt: Das Säkulare selbst erscheint nun nicht wie erwartet, indem es geist-gestalterische Freiheitsräume bietet, sondern es erhebt – nun in der atheistischen Sicht – ganz umfassende und verbindliche Proklamationen, für die es bisher eben der Religion bedurfte, was meint, daß die tieferen Glaubensätze insofern nur moduliert wurden, indem man an deren statt eine Reihe immanenz-bezogener Imperative formuliert, die nicht nur nicht des überkommen geglaubten Glaubenseifers entbehren, sondern vielmehr in von Gott in persona befreiter, aber nicht minder einhegender Umfassung zu (nun tatsächlich) universalem Durchsatz streben wollen, dies gerade auf Basis einer quasi-religiösen Beanspruchung von Tiefen-Legitimationen, gründend wohl- wenn auch unbewußt – in der Anlage des Menschen zur Überwindung seines als ganz ungenügend wahrgenommenen Zustandes – was aber unter Ablegung aller Geist-Aspekte zu ganz neuer Verheerung gereichen muß.
Hinzu sogar kommt die zunehmende Durchmischung von transzendenten und immanenzbetonten Inhalten innerhalb religiöser Systeme, die tages-und weltpolitisch hochwirksam werden, dies aufgrund umfassender, absoluter Ansprüche zur Welt und zur Welt-Gestaltung.
Und so könnte man auch sagen: Die Weltbedingung und der Disput in ihr sowie ein Verhandlungsrahmen über ihren Telos wird in der Gegenwart zunehmend beschnitten durch ‘Obskuranten’ die fast mehr als je vorfindbar sind, und es sind genügend der Irrationalisten, die sich zudem in ihrer Allianzfähigkeit zu umfassender, globaler Restriktion gegenüber den Geist-Aspekten befähigt sehen können.