Nikolai Berdjajew, spirituelle Schwächung

“Der Rhythmus der Geschichte verändert sich, er wird zu einer Katastrophe.”
“Der Individualismus, die Atomisierung der Gesellschaft, die übermäßige Gewinnsucht der Welt, die unendliche Überbevölkerung und die Endlosigkeit der menschlichen Bedürfnisse, der Mangel an Glauben, die Schwächung des spirituellen Lebens -all dies und noch vieles andere mehr sind die Gründe, aus denen das kapitalistische System geschaffen wurde, welche das Antlitz des Lebens so stark verändert und seinen Einklang mit der Natur zerstört hat.” Nikolai Berdjajew (1874 – 1948)

In der geschichtlichen Restrospektive mögen für die Katastrophe des 20. Jahrhunderts folgende drei exponierte Daten Erwähnung finden: 1914 – Ausbruch des ersten Weltkrieges, 1917 – Bolschewistische Usurpation der russischen Revolution, 1933 – Hitlers Machtergreifung. Diese drei Daten stehen in engstem Verhältnis, und die damit einhergehenden Devastationen sind heute noch zutiefst virulent für den mentalen kollektiven sowie konkret politischen Status Quo.
Der Satz von Berdjajew mag dabei seine von ihm antizipierten Katastrophen unbeschadet überstanden haben, gerade auch, weil aktuell eine Kapitalismuskritik (besonders auch in Verbindung mit der ökologischen Frage) wieder mehr denn je en vogue scheint, und obwohl sich die sozialistischen Konzepte geschichtlich vollständig delegitimiert haben, werden sie noch immer allzu bereitwillig als hoffnungsvoller Gegenentwurf zum Bestehenden herangezogen. Daß aber die Ökonomie in ihrem Verhältnis zur Moral – oder allgemeiner: daß der Grad der gesellschaftlichen Gerechtigkeit Indikator einer geistigen Verfasstheit ist, und Staatlichkeit -in der freien Zusammenkunft seines Staatsvolkes – als kollektive (geistige) Verfasstheit bezeichnet werden kann, und so also die Qualität dieses Staates als wichtigste Verursachung seiner Moralität herangezogen werden muß, dies kommt viel zu wenigen in den Sinn -dies wegen der gängigen Profanisierung des idealistischen Begriffes.
Die Akzeptanz (oder die Interpretation) eines solchen verkürzten Idealismusbegriffes, der ganz ohne transzendentes Moment auszukommen meint, kann gar als das eigentliche Problem unserer Zeit benannt werden, denn:
1. Idealismus zum Immanenten, also ohne höhere Verortung, bedeutet eine Haltung, die in ihrer fehlenden Rückbindung keine ausreichende “Haltbarkeit” bzw. Legitimation oder Widerstandsfähigkeit aufweist, da sie im Subjektiven verharrt und sich so selber relativiert (und so schwächt)- und sich somit von innen heraus früher oder später einer Selbstauflösung preisgibt, insofern sie nämlich von anderen Kräften als Vorzug erkannt wird, und zwar allein in dieser Art, daß jene Haltung in ihrer (geistigen) Vakanz mit dem fremden System oktroyierbar ist. Hierbei hat ein Idealismus der Immanenz – der in Formen altruistischer Liberalität und entsprechenden Relativismus münden muß- also nur so lange Bestand, wie er sich nicht unter dem Willen feindlich gesonnener oder konkurrierender Kräfte auflöst. Daher stimmt der Satz von Ernst Jünger: “Wo der Liberalismus seine äußersten Grenzen erreicht, schließt er den Mördern die Tür auf.” (Platon sagte: “Auch die äußerste Freiheit wird wohl dem einzelnen und dem Staat sich in nichts anderes umwandeln als in die äußerste Knechtschaft. So kommt denn natürlicherweise die Tyrannei aus keiner andern Staatsverfassung zustande als aus der Demokratie, aus der übertriebensten Freiheit die strengste und wildeste Knechtschaft”)
2. Das materialistische Verständnis als solches eröffnet eine in sich defiziente Weltsicht, die auf die Blickrichtung zu einem höheren oder wirklicheren Seinsbegriff gänzlich verzichtet, das die Überlegung hierüber aufgegeben und gar (in der Umkehrung der Wertigkeiten) als rückständig verworfen hat. Somit bleiben Klärungen der Seinsbedingungen sowie wie eine sinnhaft verortete Teleologie (ein wahrlich nützlicher Progressionismus) verwehrt. In dem Zusammenhang bezeichnen dann – um auf den einleitenden Satz von Berdjajew zurückzukommen – das Konzept des Kapitalismus, aber eben auch das (damals) heilsversprechende Konzept des Kommunismus nur zwei Spielarten der Blickrichtung auf eben ein und die selbe defiziente Daseins-Interpretation und-gestaltung, wobei sich die kommunistische Ordnung mehr als der Kapitalismus in ihrer absoluten Antitranszendenz darüberhinaus in die Verpflichtung bringt, ihre Heilsversprechen in dieser Welt -und so gegen alle Widerstände- unmittelbar und nachprüfbar einzulösen, somit befindet sie sich in einem immensen Handlungszwang, der also schließlich alle bekannten Verwerfungen ökonomischer, ökologischer, lebenspraktischer und mentaler Art gezeitigt hat.