Ding an sich und Mensch an sich

Wladimir Solowjew über Kant: “Die Welt wird nur insoweit vom Geist erkannt, als sie von ihm geschaffen ist. Strenggenommen erkennt der Geist nur seine eigenen Akte. Als innere Reflexion des selbsttätigen Subjekts ist die Erkenntnis kein Rätsel. Wie die geometrischen Linien und Figuren von uns a priori in allen ihren Eigenschaften begriffen werden, weil sie von uns selbst konstruiert sind, so daß der Verstand in ihnen lediglich das findet, was er selbst intuitiv hineingelegt hat, so wird naturgemäß auch die ganze Welt unserer Erfahrung, da sie eine apriorische, synthetische Konstruktion des Erkenntnisvermögens darstellt, in ähnlicher Weise erkannt. Rätselhaft oder – unverblümt gesagt – undenkbar erscheint die Tatsache der Erkenntnis nur unter der falschen Voraussetzung, das erkennende Subjekt habe in irgendeine äußere Sphäre der Realität überzutreten oder die Dinge müßten in irgendeiner Weise in die Sphäre des Subjekts eindringen. Aber in Wirklichkeit ist die zu erkennende Realität nur ein Produkt der Selbsttätigkeit unseres Erkenntnisvermögens in seiner eigenen Sphäre. Darum besteht nicht die geringste Notwendigkeit für einen an sich unmöglichen Übergang vom Subjekt zu den äußeren Dingen und von ihnen zum Subjekt. Insofern die vorauszusetzenden Dinge außer uns sind, wissen wir nichts von ihnen und vermögen auch nichts zu wissen; all das aber, was wir erkennen, liegt in uns selbst, ist unsere Bewußtseinserscheinung, ein Produkt unseres Erkenntnisvermögens. Mit einem Wort: ein Akt des Subjekts kann nur insoweit wirkliche Erkenntnis sein, als auch das Erkannte ein Akt desselben Subjekts ist.”

“Indem unser Geist die Natur schafft, ist er selbsttätig, das heißt alle Formen und Mittel seiner synthetischen Wirksamkeit, sowohl der Anschauung als auch der des Verstandes, werden von ihm a priori dem eigenen Selbst entnommen; allein der Stoff dieser intellektuellen Tätigkeit, nämlich die Empfindungen und Sinneswahrnehmungen, wird nicht a priori vom Geist produziert, sondern als ein unabhängig von ihm Gegebenes empfangen.”

“Darum ist anzuerkennen, daß dieser ursprüngliche sinnliche Stoff jeder Erfahrung und Erkenntnis als gegebener, nicht aber von uns erzeugter in UNBEGREIFLICHER Weise bedingt ist durch jene von uns unabhängige und daher unerkennbare Seinssphäre, die Kant als Ding an sich zu bezeichnen pflegt. ”
Hier meine Anfügung: Diese Sphäre bezeichnet aber primär die Ideen und ihren Wirkmechanismus auf die seelische Rezeption (die sogenannte Materie konstituiert).

Solowjew: “Kant vertritt fest und unwandelbar die Auffassung, daß der erkannte Gegenstand als solcher völlig unsere Vorstellung ist, in allen seinen Teilen ein Produkt der sinnlich-verstandesmäßigen Funktionen des erkennenden Subjekts, wobei allerdings der eigentliche Hergang dieser Produktion in seiner ersten materiellen Grundlage, nämlich in den Empfindungen oder Sinneswahrnehmungen, auf unbekannte Weise durch ein unbekanntes ‘Ding an sich’ bedingt wird. “
Aber an dieser Stelle sei die plotinische Erklärung eingefügt: “Die Seele enthält rationale Strukturen (logoi), die auf die im Geist/Sein enthaltenen Formen zurückgehen; und wenn die Seele diese logoi anschaut, ensteht auf selbstverständliche, unthematische Weise die sinnlich wahrnehmbare Welt.” (C. Tornau)

Das “unbekannte Ding an sich” korreliert eben mit der platonischen Idee, oder weiter: die feinstofflichere Eigentlichkeit und Verursachung und ihre (sinnliche) Umsetzung (über die logoi) ist das, was in unserer Anschauung, in unserem Verständnis Materie bedingt – die nur vermeintlich ist – die Materie selbst ist konstruiert (als Reduktion), die erste Verursachung ist also richtigerweise gesagt außerhalb der Materie. Der Mensch selber – in seiner Eigentlichkeit– dehnt sich aber ebenso dorthin aus! (Der Mensch, der Körper, somit seine Sinnesorgane, sind ja ebenfalls durch Wahrnehmung konstituiert. Wie aber kann das, was  in diesem  Radius konstituiert ist, gleichzeitig der Grund für eben das sein, was eben jene Konstitution hervorbringt? Um diesen Zirkelschluß zu vermeiden, muß man einen Schritt über diesen Kreis hinausgehen. Nur eine Seinsdisposition, die oberhalb diesem liegt, wäre also zu einer  raumzeitlichen Verbildlichung, deren Ursächlickeit, die ja vor den Sinnen liegen muß,  imstande.) Daher ist, um die Bedingungen des Mensch- und Weltseins zu klären, vom Mensch und Verstand an sich zu reden und der Bereich der Verstandestätigkeit und so auch der Empirie dem zu scharf begrenzten Menschen-Bild Kants zu entwenden – die Empirie ist dabei in der Hinwendung zur Apriorie des eigenen Seins als etwas anzuerkennen, welches einer Möglichkeit seiner Steigerung und Ausdehnung, die mit dem wachsenden Eigenverständnis über die Ausdehnung des Selbst korreliert, unterliegt. Offenbar ist Kant nicht bereit, den vorfindlichen Verständnishorizont als eine in dieser Hinsicht dynamische Begrenzung zu betrachten, so daß er die Empirie auf einen rein zeitgemäßen und hiesigen Verstandesradius festschreiben muß. Insofern spricht er dem Menschen die Progressionsmöglichkeit zur (empirischen) Transzendenzt sowie eine grundlegende Verortung und Gegenwart in transpersonaler Eigentlichkeit ab und schreibt hier einen ‘harten Dualismus’ von Mensch und unbekanntem Raum fest. Der Verständnis-Radius ist für ihn der Rahmen der (aktualen) menschlichen Möglichkeit – und hierin liegt zuletzt eine Mißkonzeption über das Menschliche selbst, denn dieser wird somit -fasst man ihn nur in seiner (vermeintlich) raumzeitlichen Aktualität auf – unzulässig auf das rein sichtbare bzw. aktual verstandesmäßig rationalisierbare (und zeitgemäß empirische) verkürzt. Kant hat es hier versäumt, dem Ding an Sich den Mensch an sich an die Seite zu stellen.