Urzustand, Rousseau und Kant

Rousseau: “Der Mensch sei von Natur aus grausam und benötige die politische Ordnung, um sanft gemacht zu werden. Hingegen ist doch nichts so sanft wie der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand.”
“Für den Philosophen sind es Eisen und das Getreide, welche die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ins Verderben gestürzt haben.”
Immerhin sagt er, begleitend zu seiner ‘Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen’:“Man darf nicht die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, für historische Wahrheiten halten, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die mehr dazu geeignet sind, die Natur der Dinge zu erhellen, als ihren wirklichen Ursprung aufzuzeigen.”
Rousseau muß man hier  widersprechen. Man denke nur an tribale Gemeinschaften und ziehe hierfür  exemplarisch die Indianer Nordamerikas heran. Die Pueblo Indianer hatten feste Dörfer und bewirtschafteten Felder, waren tendenziell friedlich. Die urtümlicheren Stämme, die als Raubnomaden umherzogen, waren -wie der Name schon sagt- alles andere als dies. Man bedenke auch die komplexen ritualisierten  Mechanismen  der Unterdrückung (Versklavung), des Tötens und Opfertums, sowie den rundum positiv sanktionierten Kampf-und Kriegsauftrag . Nun könnte Rousseau einwenden,  diese Gruppen wären eben schon auf einer entwickelteren Zivilisationsstufe und somit schon weit genug dem Urzustand entfremdet. Tatsächlich aber erscheint gerade das ursprünglichste Nomadentum  wie dessen unmittelbarster Ausläufer. Und auch deren Vorgänger mögen so sanft gewesen sein wie irgendein anderer Carnivore und Jäger seiner Umgebung. (Daß Rousseau indes aus dem Urmensch einen Vegetarier machen will, ist mit nichts zu rechtfertigen.) Zur Verderbnis gereicht dann vor allem  -lange bevor der Mensch zu  Besitz  (in modernerem Sinne) kommt, vielmehr die Bildung  konkurrierender  Gruppen, die in ständiger (‘natürlicher’) Feindschaft  an der Ausdehnung ihrer Interessensphären arbeiten-ihr ganzer Grundcharakter ist bereits expansiv. Besitz in seiner ursprünglichsten Form meint hier schon die einfache Beute, die der Nahrungsaufnahme dient, ebenso als Besitz verteidigt werden die Frauen -´der dritte Besitz indes ist das eigene Blut, sprich die Nachkommenschaft, die Konsolidierung und Bestand in der Zukunft bedeutet.  In diesen Hinsichten kennt selbst das Tier den Besitz (tatsächlich kennt es sogar die Vorratshaltung) , insofern ist Besitzstreben  als solches schon dem Urzustand beigegeben.  Alle folgende  kulturelle Übersetzung oder Erweiterung kann nicht über diese erste Natur -über diese anthropologische Grund-oder Überlebens-Disposition  hinwegtäuschen. Insofern wäre die Natur selbst in ihrem Anfang schon als Übel zu deklarieren, was den Fokus auf die christliche Sicht der Gefallenheit richtet: Einer Welt Aller gegen Aller (Hobbes),einer  natürlichen Abgrenzung, Konkurrenz und Feindschaft, eines Fressens und Gefressen-Werdens, bis hin zu Kopfjägerei und Kannibalentum, ein einziger Kampfplatz um das Überleben, um Ermächtigung  und das Fortkommen der eigenen Art.  Die Formulierung der Rousseau’schen Schrift als Klage über eine verlorene Vergangenheit -ein verlorenes goldenes Zeitalter- zeigt indes  eine (pessimistische)  Grundhaltung, die einer geschichtlichen Option, einer zum Guten angelegten Teleologie  äußerst skeptisch gegenüberstehen muß. Dabei ist die Annahme  viel schlüssiger, daß der Urzustand der furchtbare Zustand ist, die Entfremdung vom Urzustand aber erst den Ausbruch aus der Gefallenheit der Natur ermöglicht  und der Mensch also so Objekt einer Aufstiegsbewegung wird,  gleichwohl, daß Verschlechterungen eintreten, diese aber -da sie   gegenüber dem  animalischen Naturzustand in der Handlungsmöglichkeit des Menschen begründet sind –  eben  nicht das letzte Wort darstellen, sondern in einem dialektischen Sinne langfristig an der Erwirkung des guten Ziels ihren Anteil haben.  Dies hat Kant wie folgt richtig dargestellt:
“Aus dieser Darstellung der ersten Menschengeschichte ergibt sich: daß der Ausgang des Menschen aus dem ihm durch die Vernunft als erster Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten Paradiese nicht anders, als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei. Ob der Mensch durch diese Veränderung gewonnen oder verloren habe, kann nun nicht mehr die Frage sein, wenn man auf die Bestimmung seiner Gattung sieht, die in nichts als im Fortschreiten zur Vollkommenheit besteht, so fehlerhaft auch die ersten selbst in einer langen Reihe ihrer Glieder nach einander folgenden Versuche, zu diesem Ziele durchzudringen, ausfallen mögen.”

“Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.” (Kant) -Anfang der Menschengeschichte)