Karl Jaspers, “Nietzsche und das Christentum”:
“Das weltgeschichtliche Totalwissen
Nietzsches Denkschema liegt ein Denkschema zu Grunde: als ob wir ein Wissen vom Gang der Menschheitsgeschichte im Ganzen haben könnten oder hätten; als ob wir unser Zeitalter kennten und darum zu wissen vermöchten, was der Zeit gemäß und was unzeitgemäß sei, und als ob wir weiter die Zukunft im Ganzen ins Auge fassen, planen und wollen könnten. Dieses Denkschema ist keineswegs selbstverständlich. Große Teile der Menschheit und ganze Zeitalter lebten in einer fraglosen Zugehörigkeit zur regelmäßigen Wiederkehr der Erscheinungen, lebten ungeschichtlich, ganz gegenwärtig wie in der Ewigkeit, als ob es immer so war und sein werde, wie es heute ist. Woher kommt die andere, so erregende Denkweise, die je nach Lage ein unerhörtes Ohnmachtsgefühl oder ein Bewußtsein außerordentlicher Macht über den Gang der Dinge bewirkt?
Sie ist christlicher Herkunft.”
Jaspers stuft hier die Rolle des Christentums ganz falsch ein. Daher ist er gar in der Lage zu sagen, “Herder, Kant, Fichte, Hegel…stünden in der Verwandlung dieses christlichen Wissens zum weltlichen Totalwissen schon in der Deszendenz des christlichen Gedankens.”
Tatsächlich aber ist es ja vielmehr das Christentum, das in der Deszendenz eines antiken -idealistischen- Totalwissens steht, während Hegel und Fichte ja gerade auf dieses vorchristliche Wissen rekurrieren. Dieses Wissen ist ja im Kern teleologisch und unterwirft den gesamten Weltenlauf der formulierten Bestimmung. Zudem muß bemerkt werden, daß die Erfüllung der Geschichte auch das Ende ihrer Explikation bedeutet und somit einen Zustand der Gegenwärtigkeit proklamiert, der in verwandtschaftlicher Nähe zur archaischen Geschichtslosigkeit gesehen werden sollte. Dies nimmt -für Europa- seinen (schriftlich überlieferten) Beginn mit den Formulierungen der “Ideenfreunde” des antiken Griechenland. Es stimmt nicht, wie etwa Nietzsche meint, daß mit Sokrates und Plato das Heidentum ausgeläutet würde. Die Welterklärung als Telos eines Wiederaufstieges zum Höheren und Höchsten wird im Gegenteil bei jenen alles bestimmend, wobei es sich letztlich um etwas viel tiefer Liegendes, Ur-Heidnisches, den urregiliösen Topos schlechthin Beschreibendes handelt, der in den antiken Mysterien noch unumkleidet von dogmatischen Attributen und theologischen Übersetzungen als ein Fakt der (intersubjektiven) Empirie zu Tage treten konnte.
Prinzipiell ist dies weder klassisch griechisch, weder platonisch oder vorsokratisch, sondern als Wissen vom ontologisch “wirklicheren” Transzendenten schlicht archaisch- urreligiös, daher -wenn man so will- schamanisch, die kulturelle Übersetzung meint aber später Idealismus, Hypostasen-und Explikationslehre. Die abrahamitischen Ansichten hingegen haben diese Kenntnisse nur noch entfernt umschrieben-und gänzlich mit ihren antrophozentrierten Mythen überlagert. Im Laufe der Kanonisierung der Schriften kommt es zudem zu mannigfaltigen Verstellungen und Mißverständnissen. Sie stehen somit zwar ebenfalls für den Anspruch um die Kenntnis einer ganzheitlichen Ausgerichtetheit des Weltenlaufes, dabei allerdings in eklatanter Deszendenz zum alten Wissen hierüber.
Folgerichtig , als wolle er seinen eigenen Fehler geraderücken, sagt dann Jaspers an anderer Stelle über Nietzsche:
“Für Nietzsche liegt der Höhepunkt des Menschentums im …Griechentum, die Möglichkeit unserer eigenen Wahrheit und Wirklichkeit ligt in der Wiederannäherung an dieses Griechentum…, die Höhe der Antike ist durch Gifte zerstört, die -alle zusammengefasst, summiert und überboten im Christentum -die Welt in den Ruin brachten, der nach zweitasusend Jahren jetzt seinen tiefsten Punkt erreicht hat und endlich zur Umkehr auffordert.”