Welt und Relativierung

Wladimir Solowjew: “Dem normalen, das heißt weisen und gerechten Menschen ist das Leben selbst ein Übel, der Tod ein Gutes. Der wahre Philosoph soll für die Welt vor seinem physischen Tode sterben, auf alle praktischen Interessen verzichten und Einkehr in sich selbst üben, ohne an gemeinschaftlichen Dingen Anteil zu nehmen, und dennoch ist das natürliche Schicksal des Weisen und Gerechten innerhalb der menschlichen Gesellschaft – getötet zu werden. Diesem absoluten Dualismus von Gerechtigkeit und Wirklichkeit enspricht hier eine ebenso absolute Spaltung von Geist und Körper, venünftigem Denken und sinnlichem Wahrnehmen, von wahrhaft Seiendem und Erscheinung: Körper, Sinnlichkeit, Erscheinung sind durchaus etwas Schlechtes, Unnormales, Nichtsollendes; der Körper ist der Sarg der Seele, die Sinnlichkeit – eine Täuschung, die Erscheinung – ein Trugbild.”

Diese äußerste Relativierung des Raumzeitlichen gründet – wie an anderer Stelle bereits besprochen – zuletzt auf urreligiöser Empirie. Hier sei noch einmal Erwin Rohde zu den antiken Mysterienkulten herangezogen: “Das Gefühl ihrer Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis sich blitzartig ihr selbst offenbart hatte, konnte der Seele sich zu der bleibenden Überzeugung fortbilden, daß sie göttlicher Natur sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib sie freilasse, wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer. Welche VERNUNFTGRÜNDE könnten stärker einen solchen Spiritualismus befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen Vorgeschmack gewährt hatte von dem, was einst für immer sein werde?” 
Und weiter: “Entwertung des alltäglichen Lebens, Abwendung von diesem Leben wird die Folge eines so gesteigerten Spiritualismus sein.”
Nun: Wegen solch urreligiöser (somit zuletzt schamanischer) Grundverortung wundert es nicht, daß diese Sicht der ‘platonischen Herabsetzung’ des Raumzeitlichen im Naturreligiösen wohlbekannt ist und durch praktischen Bezug besondere Integration ins alltägliche Denken, Bewußtsein und Erleben findet. Die spirituelle (oder spiritualistische) Praxis kennt Mittel und Wege, eben die erfahrene und erfahrbare Tiefenstruktur von Welt dauerhaft zugänglich zu machen, was mitunter auch ‘die Welt anhalten’ genannt wird – welches wiederum die Sicht auf die Raumzeit als einen veräußerten (reduktiven und artifiziellen), quantisierbaren Bildlauf (hierzu auch der Artikel “Monade”) impliziert.

So fragt Carlos Castaneda den Schamanen Don Juan: “Was verstehst du unter Welt anhalten?” Und Don Juan entgegnet: “Es ist eine Technik, die von denen, die nach Kraft jagen, praktiziert wird, eine Technik, durch die man die Welt, wie wir sie kennen, einstürzen lassen kann.” Und dies meint nichts viel anderes als den platonischen Tod, der in Wahrheit Transzendenz der Perzeption und somit ein Aufbruch zu eigentlicher Sicht und gesteigerter Wirklichkeit ist.