Wirklichkeit und ihre Steigerung

Zu einer ontologischen Einordnung der Nahtoderfahrung: Nach der Sicht der Probanden kommt ihr Wirklichkeit in einem Sinne zu, den man in dieser neu erfahrenen Relation unserer Raumzeit selbst gar nicht mehr zusprechen mag: “Es war wirklich. Ich weiß ganz sicher, daß es kein Hirngespinst ist. Es war auch kein sogenannter Traum oder irgend so etwas Ähnliches. Die Dinge sind wirklich passiert, ich habe sie ja schließlich erlebt.”
“Es war wirklich. Wenn sie wollen, können sie mir gerne ein Wahrheitserum geben… Es war so wirklich, wie nur irgend etwas wirklich sein kann.” Ein Mann hatte sogar das Gefühl, sein Sterbeerlebnis sei realer gewesen als unsere irdische Welt: “Mir kommt seitdem die Welt wie ein Zerrbild des wirklichen Lebens vor – wie eine Phantasiewelt. So, als ob die Menschen nur Spiele spielten, so, als ob wir auf etwas vorbereitet würden, aber nicht wissen, worauf.” (aus Sabom, Erinnerung an den Tod) Zitat Dirk Bertram

Selbstredend wird hier die ontische Minderung der Raumzeit gegenüber dem geistigen Reiche protegiert, wie sie etwa auch im platonischen Sinne im Höhlengleichnis zum Ausdruck kommt. Mit der Erfahrung der Minderung der Eigentlichkeit des Wirklichen (des bisher als wirklich Geglaubten) geht beim Proband nun zusätzlich das Gefühl einer Unaufrichtigkeit oder Nicht-Ernsthaftigkeit des weltlichen Zustandes hervor:
“So, als ob die Menschen nur Spiele spielten…so, als ob wir auf etwas vorbereitet würden, aber nicht wissen, worauf.” Dies kann – neben einer tricksterhaften Referenz – auch als Hinweis auf einen eigentlichen, aber dem normalen menschlichen Lebensradius weithin verborgenen Auftrag verstanden werden. Das von den profanisierenden und unsere ganze Defizienz konstituierenden Zusätzen entkleidete Sein erkennt nun das raumzeitliche Leben in völlig anderem Licht als Propädeutik zum eigentlichen Zweck, der nämlich ‘Aufbruch zur Fülle’ eines potentiellen (und potenzierten) und nur vermeintlich fernen Seinszustandes meint, dies im Übersteigen der alltäglichen, endlichen und als eigentliche Bestimmung erachteten (Ich-) Persönlichkeit.
Meister Eckhart sagt hierzu:
“Der Mensch muß lernen, bei allen Gaben sein Selbst aus sich herauszuschaffen und nichts Eigenes zu behalten und nichts zu suchen, weder Nutzen noch Lust noch Innigkeit noch Süßigkeit noch Lohn noch Himmelreich noch eigenen Willen. Gott gab sich nie noch gibt er sich in irgendeinen fremden Willen; nur in seinen eigenen Willen gibt er sich. Wo aber Gott seinen Willen findet, da gibt er und läßt er sich in ihn hinein mit allem dem, was er ist. Und je wir dem Unsern entwerden, um so wahrhafter werden wir in diesem.”

Und aus der indischen Aschtavakragita:

“Was du erblickst, darin strahlst du dich alleinsam wider.
“Der hier – bin ich. der da – bin ich nicht”
Gib diese Unterscheidung auf.
“Alles ist selbst” so entscheide
Und erwägensbar zieh dahin in Seligkeit.
Deinem Nichterkennen entstammt das All,
Alleinsam bist du in höchster Wirklichkeit.
Neben dir ist kein anderer, der
Im endlosen Strome der Geburten hinwanderte, –
Auch keiner dem endlosen Strome entrückt.
“Schwindel nur ist alles das hier, nichts ist es” –
Wer so entscheidet, wird des Hauches früherer Leben bar; –
Wie ein Flimmern nur,
Wie ein Nichts erlischt er in Ruhe.
Alleinsam war er im Meer des Werdens,
Alleinsam ist er, wird er sein.
Nicht Bindung gibt es für dich, nicht Lösung.
Was zu tun war, hast du getan, –
Zieh dahin in Seligkeit.
Nicht mit Bilden noch Entbilden rühre dein Geistiges auf,
Der du in Geist bestehst. In Ruhe eingegangen
Steh selig still in deinem eigenen Wesen,
Dessen Form seelige Freude ist.
Gib innere Schau nur allerwegen auf,
Halte nichts mit Sammlung im Herzen fest, –
“Selbst” bist du, ja: erlöst bist du, –
Was willst du hin und her befühlend vollbringen.