Gleichwerdung, Entbildlichung

Gott ist allwissend, Herr der Herrscher,
Weit zarter als des Geistes innerste Zartheit.
Der Welten alterslose Stütze,
sonnengleich leuchtend aus sich selber.

Wer könnte sich erdenken seine Formen?
Er weilt jenseits der Täuschung, Mayas Dunkel.
In Ihn soll sich der Mensch allzeit versenken,
Denn dann in seiner letzten Stunde,

Wenn er vom Leibe scheidet, wird er stark sein
Durch dieses Yogas Kraft, dem treu geübten:
Sein Sinn ist fest, sein Herz so voller Liebe,
Das diese Fülle kaum halten kann.

(Bhagavadgita, Der Weg zum ewigen Brahman)

Das Ende der dritten Strophe bietet eine interessante Parallele zu einer Aussage aus einem Protokoll einer Nahtoderfahrung. Der Betroffene wurde im Interview nach einer Lehre aus dieser Erfahrung, genauer: nach dem eigentlichen Sinn des irdischen Daseins gefragt. Seine Erwiderung war, daß er in Verbindung mit einer Licht-Entität trat, die ausströmenden Charakter hatte,  und daß er hierbei der Erfahrung einer allumfassenen Liebe gewahr wurde, die mit diesem umfangenden Licht die  Tendenz hatte, in ihn einzufließen, daß sie aber energetisch so groß war, daß er sie in ihrer Vehemenz nicht in sich aufzunehmen in der Lage war. Der Sinn des Lebens bestünde nun also darin, das “eigene Herz so zu erweitern, daß es als Gefäß groß genug wird, um schließlich diese hohe Energie zu fassen”.
Meister Eckhart spricht das selbe Prinzip an, indem er  hierfür  das Bild von der Gleichwerdung benutzt, das in der Konsequenz des gerade Beschriebenen liegt.  Auch er verwendet den Begriff der Liebe, kehrt dabei aber den Aspekt der Entbildlichung  hervor: Er nimmt Bezug auf Augustinus, der sagt: “(Die vierte Stufe ist), wenn er(der Mensch) mehr und mehr zunimmt und verwurzelt wird in der Liebe und in Gott.”
Meister Eckhart: “Wenn ein Meister ein Bild macht aus Holz oder Stein, so trägt er das Bild nicht in das Holz hinein, sondern er schnitzt die Späne ab, die das Bild verborgen und verdeckt hatten; er gibt dem Holze nichts, sondern er benimmt und gräbt ihm die Decke ab und nimmt den Rost weg, und dann erglänzt, was darunter verborgen lag. Wenn der Mensch entbildet ist und überbildet von Gottes Ewigkeit und gelangt ist zu gänzlich vollkommenem Vergessen vergänglichen und zeitlichen Lebens und gezogen und hinüberverwandelt ist in ein göttliches Bild, wenn er Gottes Kind geworden ist. Darüber hinaus noch höher gibt es keine Stufe.”
Typisch für seine ganze Lehre ist hier der Hinweis  auf die Einswerdung durch Angleichung mit dem Einen, besser: durch die Einswerdung des  Einen mit sich selber in seiner Entattributierung. (So ist -im Sinne von “existiert” der Mensch nur als Gott.) Und dies geht über den Anspruch der Bhagavadgita -so man sie theistisch interpretieren wollte- noch deutlich  hinaus.