Buddha des Mitleids, Jesus, Gnosis

Gottfried de Purucker : “Die Theosophie kennt zwei Wege des Buddhas, den des Buddhas des Mitleids und den den des Pratyeka Buddhas. (Vorab: Beide Wege sind edel). Der Pratyeka Buddha: Nirvana für sich selbst zu erstreben kann man als eine Art verfeinerter spiritueller Selbstsucht ansehen, denn der Versuch, Nirvana für sich allein zu erringen, ist lediglich individuelle Sehnsucht nach Befreiung aus dem geoffenbarten Leben, der Wunsch, abseits zu stehen in absolutem Frieden, in absoluter Glückseligkeit, in reiner Bewußtheit und ohne Rücksicht auf alles andere.

Hast du dieses erhabene Schauen erlangt, dann verschließe deine Augen nicht vor dem Leiden anderer, sondern verwende dein Leben gleich den Buddhas des Mitleids dazu, allen Wesen zu helfen: zuerst indem du dich selbst emporhebst, unpersönlich, nicht persönlich – so daß du auch anderen dazu verhelfen kannst, das göttliche Licht zu sehen.
Gibt es etwas Schöneres, Höheres, Edleres, als gebrochenen Herzen Trost, verdunkelten Gemütern Licht zu bringen und die Menschen Liebe, Liebe und Vergebung zu lehren?
Den Menschen Frieden zu bringen, ihnen den Weg aus dem verwirrenden Labyrinth materieller Existenz zu weisen, den Mitmenschen das Wissen um ihre eigene grundlegende Göttlichkeit als Wirklichkeit wiederzugeben, ist das keine erhabene Aufgabe?”

Ganz in diesem Sinne ist das Wirken Jesu zu verstehen. In ihm sehen wir das perfekte Bild des Buddha des Mitleids. Obwohl über diese Welt weit erhaben, inkarniert er, um den Menschen ein Lehrstück zu geben. Dieses beinhaltet neben der ethischen Implikation auch gerade die Aufklärung über die eigentlichen (dem Menschen verschleierten) Seinsbedingungen (das Licht der Theosophen). Insofern ist er also gerade auch ein Wahrheitslehrer, ein Erleuchter für die Unwissenden. (Die gnostischen Implikationen sind ab dem Konzil von Nicäa endgültig zur Ketzerei erklärt worden, die ursächliche Botschaft ist hingegen in den Schriften von Nag Hammadi heute wieder nachvollziehbar.) Jesus ist demnach am besten in katharischem oder allgemein gnostischem Sinne als Erleuchteter (unter anderen), als Bote einer höheren Dimensionalität (der auch der Mensch wesenhaft verbunden ist) zu verstehen, dessen Bestimmung und Auftrag letztlich an seine spezifische Zeit und seinen spezifischen Kulturraum geknüpft war. (Durchaus ist er als “Sohn Gottes” zu bezeichnen, aber nicht im engsten Sinne, denn dies oder z. B Fragen nach der Trinität haben überhaupt nicht die Relevanz, die ihnen die orthodoxe Theologie zukommen läßt, denn Namen und Konzepte und Bezeichnungen finden – hierauf wird gerade im apokryphen Philippusevangelium hingewiesen – im Äon (verstanden als die erste übersinnlichen Sphäre) ihr jähes Ende. All die über die Jahrhunderte folgenden Handlungen der kirchlichen Institutionen stehen nicht mehr im eigentlichen Sinne im Zusammenhang mit jenen jesuanischen Kernbotschaften und dienen so der Entfernung von der ursächlichen Intention. Das ethische Handeln als Folgerung aus den dargelegten Bedingungen der höheren Seins-Wahrheit ist zudem zwar durchaus zentrales Anliegen, aber die Botschaft selber ist in ihrer Wichtigkeit als Wahrheitslehre primär eine Verkündung, eine Proklamation zur Befreiung aus Unwissenheit und Verwirrung und Nicht-Geistigkeit, und als solche der eigentliche Wert uns so der Grund von allem Anderen, der zu verteidigen und zu verbreiten ist (daher auch die – kämpferischen – Passagen, an denen Jesus sagt, er habe Trennendes, Krieg und Feuer auf die Erde geworfen.) Und so schwer entschlüsselbar die Worte aus dem Apokryphon auch für viele heutige Ohren klingen mögen, so sind sie doch eindeutig, gerade auch in ihrer Übereinstimmung mit den Kernaussagen der philosophia perennis. Diese Offenbarung bildet also die eigentliche Autorität, kein Kanon ist hierzu im Vergleich von Belang, aber die Universalität der Weisheit, die sich in dieser Botschaft offenbart, ist hingegen als der einzige echte und tatsächliche Kanon -der mit sich selber übereinkommt, weil er wahr ist (“Wahr ist, was verbindest”Karl Jaspers) – zu bezeichnen.