Gestalten des Nicht-Gestalthaften

Werner Beierwaltes über den Neuplatonismus: “Phantasia ist so auch begreifbar als Spiegel des Denkens, das, worin dieses sich abbildet oder verbildlicht. Gerade diese Spiegelung aber ist wiederum der Anfang der Selbstreflexion des Denkens. – Diese Möglichkeit nun, Wesen und Funktion der phantasia als aktive Vermittlung zu bezeichnen, gründet darin, daß die Spontaneität der die Ideen des Figürlichen entfaltenden dianoia sich in ihr selbst fortsetzt, wodurch sie sich als Einheit eines rezeptiven (passiven) und aktiven Elementes erweist: Sie entwirft oder projiziert ihrerseits die in sie hervorgegangenen Ideen oder seienden Begriffe in die Seinsweise der Teilung oder des Raumes und der Gestalthaftigkeit. Aus dem Un-Figürlichen oder Nicht-Gestalthaften, aus der Einfaltung der Differenz in die Einheit wird also Einheit und Vielheit, räumliche Gestalt durch die gestaltgebende Bewegung der phantasia.
Daher ist phantasia aufgrund dieses aktiven Elements in ihr als Einbildungskraft zu verstehen, indem sie darstellt, versinnlicht, zur anschaubaren Gestalt bringt, oder als Bild setzt, was an sich, d.h. im Denken der dianoia, qua Ur-Bild gerade nicht Gestalt, oder Gestalt nur eingefaltet, im Sinne einer realen Möglichkeit ist, Gestalten des Nicht-Gestalthaften vorzeigend.”

Wie könnte man sich dem Wort vom “Gestalten des Nicht-Gestalthaften” besser annähern?
C.G.Jung sagt: “Da alles Psychische präformiert ist, so sind es auch dessen einzelne Funktionen, insbesondere jene, welche unmittelbar aus unbewussten Bereitschaften hervorgehen. Dazu gehört vor allem die schöpferische Phantasie. In den Produkten der Phantasie werden die ‘Urbilder’ sichtbar, und hier findet der Begriff des Archetypus seine spezifische Anwendung.”
“Ich begegne immer wieder dem Mißverständnis, daß die Archetypen inhaltlich bestimmt, das heißt eine Art únbewußter ‘Vorstellungen’ seien. Es muß deshalb noch einmal hervorgehoben werden, daß die Archetypen nicht inhaltlich, sondern bloß formal bestimmt sind, und Letzeres in nur sehr bedingter Weise. Inhaltlich bestimmt ist ein Urbild nachweisbar nur, wenn es bewußt und daher mit dem Material bewußter Erfahrung ausgefüllt ist.”
“Der Archetypus ist ein an und sich leeres, formales Element, das nichts andres ist als eine ‘facultas praeformandi’, eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform …
der Archetypus kann im Prinzip benannt werden und benutzt einen invariablen Bedeutungskern, der stets nur im Prinzip, nie aber konkret seine Erscheinungsweise bestimmt.”

Angefügt sei hier ein kurzer Gedanke noch zur Kunst:
Offenbar hat es in Europa viele Jahrhunderte gebraucht, die Form bekannter Darstellung ganz zur Disposition zu stellen, Form also zu transzendieren – dies sei für das Figürliche bemerkt – nicht die Überwindung durch Abstraktion ist hiermit gemeint, sondern die Findung archetypischer Entität jenseits der visuell zugänglichen, natürlichen Erscheinungsarten durch freieste Übersetzung und Hervorbringung, also durch die unbeschnittene Phantasie im Sinne ihrer Bedeutung als Anknüpfung an das Noussphärische – dies aber ohne kulturelle und vor allem religiöse Definitionen, denn jene haben in ihrer theistischen Prägung das formgebende Agens ganz von seiner wesen- und gestalthaften Kraft des aus dem Nous schöpfenden Ingenium abgeschnitten. Schelling sprach von der Freiheit zum Höchsten – insofern ist der künstlerische Prozeß erst schöpfend aus dem Unbekannten, Tiefen und Zielführenden, wenn er sich ganz sich selbst, seinem innersten Wesen der Freiheit und Größe nach überlassen ist.
Und passend nach Gadamer käme der Kunst dann erst “die bedeutende symbolische Rolle zu, uns einen Spielraum zu öffnen, in dem sowohl Welt als auch unser Sein im Sinne einer unerschöpflich reichen Totalität beleuchtet werden.” (Peter Watson).