Wahrheitsauftrag und Antichrist

Die Lektüre von Viktor Solowjews ‘Kurze Geschichte vom Antichrist’ lehrt einmal mehr, daß der Antichrist in der Regel nicht als ein äußerer Gegner des Christentums zu denken ist, sondern daß er als ihr Usurpator von Innen auftritt, und weiterhin, “daß Christus die Vertiefung des Gewissens und so die moralische Scheidung der Geister brachte, der Antichrist hingegen diese Scheidung aufhebt um alle zu beglücken”.(Ludolf Müller)
Läßt sich hier aber nicht mühelos ein Bezug zum gegenwärtigen und allerorts – man kann ja sagen- zwangsverordneten Philanthropismus herstellen?

Ein Text über Thomas Müntzer zeigt uns auf, wie sich in dieser Sachlage die Autoritäten einordnen lassen. So besteht gerade in einer “Kreaturenfurcht die Umkehrung der christlichen Intention, da sie mit ihren Hierarchien nicht die göttliche Ordnung widerspiegelt, sondern jene im Gegenteil negiert und verkehrt hat.” (H.J. Goertz) Typischerweise ist diese Umkehrung Signum des Antichristen (gerade b ei Müntzer) und gleichzeitig Erfüllung der christlichen apokalyptischen Weltsicht und so also Hinweis auf die Endzeit.
Darüberhinaus aber faßt man das Wirken des Antichrist auch als allgemeineres, nicht zwingend zeitgebundenes Prinzip auf, das als teuflische Macht in der Welt und über alle Epochen latente Manifestation erfährt.
“Das letzte Reich ist, das durch ein Gemisch aus Eisen und Ton symbolisiert wurde, die zertrennte Welt: Ein Reich, in dem Pfaffen und Regenten sich die Herrschaft teilten, sich wie Aale und Schlangen auf einem Haufen verunkeuschen und nicht in der Lage waren, ihre Interessen und Pflichten auf ein Ziel, das Reich Gottes auszurichten. Die bestehende Gesellschaftsordnung sieht Müntzer als eine Verkehrung der göttlichen Ordnung. In der gegenwärtigen Gesellschaft wird Angst und Schrecken verbreitet, Furcht vor Menschen und Kreaturen, nicht aber vor Gott. Die Ordnung der Kreaturenfurcht muß von einer Ordnung der Gottesfurcht abgelöst werden.” (H.J. Goertz)

Nun ist ein Christ -diesen Worten folgend- primär an einen (geoffenbarten) göttlichen Wahrheitsauftrag gebunden, er muß das göttliche WISSEN in seiner Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit wahren, behüten und fördern, denn der gnostische Jesus sagt: “Die Unwissenheit ist die Mutter von allem Bösen. Unwissenheit dient dem Tode, denn die aus der Unwissenheit stammen, waren weder, noch sind sie, noch werden sie sein.” (Philippus)
Und sogar: “Ich habe Feuer auf die Welt geworfen und siehe, ich hüte es, bis es lodert.” Und: “Vielleicht denken die Menschen, daß ich gekommen bin, um Frieden auf die Welt zu werfen, und sie wissen nicht, daß ich gekommen bin, um Spaltungen auf die Erde zu werfen, Feuer, Schwert, Krieg.”
Diese Zeilen des Thomasevangeliums implizieren in höchster Dichte den Auftrag zur Mehrung eines von Jesus als Mittler dargebotenen “Wahrhheitsfunkens”.
Es ist keineswegs damit genug getan, die ethische Implikation des Jesuanischen in ihrer Selbstgenügsamkeit zu beachten, denn ihr Grund ist die wahre Lehre, die elementare Aussage über die Seinsbedingung des Menschen zur Weltüberwindung und so zur Transzendenz, ohne Mehrung dieser Lehre auch keine Mehrung der derivativen ethischen Handlungsprämisse – im Gegenteil ihr anstehender Niedergang.
Folgender Passus liest sich wie eine Parabel auf eine gegenwärtige Situation, in der die Gesellschaft in einem exponentiellem Maße einer (antitranszendenten) geistigen Knebelung ausgesetzt ist, das höhere Bewußtsein dabei vor dem Niederen gebeugt wird, und so zusehends Recht zu Unrecht mutiert:
Jesus sagte: ‘Es ist unmöglich, daß jemand in das Haus des Starken hineingeht und es gewaltsam in Besitz nimmt, es sei denn, er binde zuvor seine Hände. Dann wird er sein Haus umdrehen.’ Thomas-Apokryphon, Logion 35 (Wer Ohren hat der höre.)