Wahrnehmung der Seele, Plotin

“Beim Nah-Todeserlebnis machen Personen, die sich vom Körper entfernt wähnen, eine Vielzahl von Beobachtungen, für die eigentlich Sinnesorgane benötigt würden. Besonders deutlich ist dies bei außerkörperlichen Wahrnehmungen. Manche Experiencer sind in der Lage, ihre Umgebung vollständig und richtig zu beschreiben, Schriften zu lesen oder aber Zeitabläufe wiederzugeben…. In diesen Fällen, und erst recht bei kurzsichtigen oder blinden Personen, stellt sich die Frage, wie eine Wahrnehmung ohne die üblichen Sinnesorgane möglich sein soll. Das ohnehin schon bestehende Leib-Seele-Problem wird dadurch weiter erschwert.” (Stefan Högl)

Plotin: “Die so geartete Seele nun, die in eine entsprechende Materie eingegangen ist, weil sie genau DAS ist (wie wenn sie schon ohne Körper in dieser Verfassung wäre), ist der Mensch; und im Körper, wenn sie ihn nach sich selbst gestaltet und dadurch noch ein Bild des Menschen, soweit der Körper dafür aufnahmefähig war, erschafft (so wie der Maler wiederum einen Menschen schaffen könnte, der noch geringer als dieser ist), hat sie menschliche Gestalt und die dazugehörigen rationalen Strukturen bzw. Charakterzüge, Dispositionen und Fähigkeiten – alles in abgeschwächter Form, weil dieser Mensch nicht der erste ist. Und dementsprechend hat sie auch andere sinnliche Wahrnehmungen, die ganz klar zu sein scheinen, aber im Vergleich mit denjenigen, die vor ihnen da sind abgeschwächt und Abbilder sind. Und der Mensch oberhalb von diesem gehört dann bereits zu einer göttlicheren Seele, die einen besseren Menschen und klarere Sinneswahrnehmungen hat. “

Plotin: “Das Hiesige hängt von dem Dortigen ab und imitiert das Dortige, und der Mensch hier hat alle seine Fähigkeiten von dem dortigen und ist daher auf das Dortige bezogen; und die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände hier sind dem hiesigen Menschen zugeordnet, die dortigen aber dem dortigen… und die sinnliche Wahrnehmung hier ist abgeschwächt im Vergleich zu der dortigen Art des bewußten Erfassens, dem wir ebenfalls den Namen ‘sinnnliche Wahrnehmung’ gegeben haben, auch wenn es klarer ist. Und das ist auch der Grund, weshalb der hiesige Mensch sinnliches Wahrnehmungsvermögen besitzt: weil seine Art des bewussten Erfassens eine geringere ist und sich auf geringere Gegenstände bezieht, die nur Abbilder der dortigen sind. Kurz, es ergibt sich: Die hiesigen Sinneswahrnehmungen sind abgeschwächte geistige Erkenntnissse, und die dortigen geistigen Erkenntnisse sind klare Sinneswahrnehmungen.”

Diese Einlassung Plotins bietet ihrerseits gewichtige Verweise auf ein untrennbares Kontinuum von Geist und Materie sowie der materiellen Welt als prinzipiell defiziente Eigentlichkeit des Geistes und dessen grundlegenden Charakter für das Sein in umfassender (und zumeist unerkannter) Realität.