Formbildende Absoluta

Peter Sloterdijk in einer Betrachtung über Religion: “Es geht vielmehr um die Frage, wie es möglich wurde, daß aus Schriften von evidentem Zitat- und Kompilationscharakter sowie von unverhohlen poetischem bildersprachlichem Gepräge, hervorgegangen aus der Einverleibung früherer Dichtung und aktualisiert in performativen Neuaufführungen älterer Liturgien, gesellschaftsformende, zivilisationsbestimmende, seelenformbildende Absoluta entstehen konnten, denen es gelang, ihren poetischen, fiktionalen bzw. mythischen Charakter unsichtbar zu machen. Wo auch immer man die heiligen Bücher aufschlägt, findet man sich inmitten von Paraphrasen: mit jedem Satz tritt man ein in die Sphäre eines erregten intermonotheistischen, interzelotischen, interfiktionalen Zitierens.”

Wie wurden jene Schriften Absoluta? Zuvorderst durch die Hinwendung der Schrifthüter zur Welt.
“Es bedeutet die Abwendung der größten Gefahr, die dem Christentum bis heute drohte, als die katholische Kirche sich gegen die Gnosis bildete und behauptete, als sie mit Hilfe Konstantins die Welt als eine Aufgabe begriff, anstatt sie aufzugeben.”(Arno Borst)
Und diese Aufgabe, hier schon dem Ur-Sinn enthoben, handelt mit Repression nach Innen und Außen, gesellschaftlichem hierarchisierendem Zwang, (was man dann -viel später- Priesterbetrug nennt), expansivem, politischem und militärischem Kalkül, sozialer Bindungs- und Identifikationsanforderung durch Erziehung von kleinst an mittels verbindlicher Riten der Zugehörigkeit wie etwa der Sakramente, insbesondere der Taufe. Das Leben abseits einer definierten, begrenzten Sozietät wird eine schlichte Unmöglichkeit. Der religiöse und kulturelle Impetus, eine Anlage, die ganz unabhängig vom diktierten Dogma im Menschen nach Verwirklichung drängt, muß sich also innerhalb dieses Rahmens entfalten und hiermit affimiert er ihn zugleich, er stärkt somit das, was ihn begrenzt. Dort aber wo er ihn – ebenso wesenhaft – durchbrechen will, sind die Strukturen so fest und restriktiv und auf ihren Selbsterhalt bedacht, daß der Ausbruchversuch sofort von den Wächter-Instanzen registriert und entsprechend geahndet wird. Die Schriften als solche sind inhaltlich hierfür nicht mehr von Relevanz, sondern vielmehr geht es nur um die Sicherstellung der geistigen Anschirrung durch den Bezug auf sie.
Geschichtlich kann man sagen: Die Ur-Sozietät, die kollektiv-charismatisch und empirisch religiös ist, gibt die sakrale Kompetenz an die Wenigen (oder diese usurpieren sie). Im Ritus bleibt das Sanktum aber dem Kollektiv vorerst zugänglich. Nach diesem (ideal gezeichneten) Zustand setzt die Abwärtsbewegung ein, die Pragmatik der Wenigen ist dem Machtausbau und der Hierarchiebildung bzw. -verstetigung geschuldet, die Pragmatik der Vielen meint lebensreell eine Abschneidung vom Sanktum, bald auch die Entfremdung aller durch stetige Symbolisierung und Übersetzung. (Das Symbol kann zuletzt von niemandem mehr, auch nicht der Priesterschaft, gelesen werden). Die Ur-Anlage des Menschen, des Einzelnen nach Transzendenz aber besteht fort, doch erst wenn sich die Repression um einen gewissen Grad abschwächt, kann der Geist aus seinem Prokrustesbett erstehen, nun gar in besonderer Erwartung, in erhöhten Spannungszustand versetzt (daher Nietzsches Bild vom gespannten Bogen des Geistes nach den Jahrhunderten kirchlicher Knute), was auch die ursächliche Kraft emanzipatorischer Bewegungen oder -allgemeiner gesagt – dialektischer Beantwortungen erklären mag.