Das hat für mich wahrlich etwas tragikomisches, sich über die Faktizität der Bibel zu streiten, da dies nichts als ein Streit um des Kaisers Bart, sprich um ein falsches Dogma sein muß. Nebenbei verstehe ich “Faktizität” und “Glauben” als Gegensatzpaar, denn habe ich das Wissen um etwas, muß ich es nicht glauben (da ich es weiß).
Andreas Lindemann, Professor für Neues Testament, Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel in einem Spiegelinterview:
Spiegel: “In einer »Handreichung« des Vatikans zum so genannten Heiligen Jahr 2000 wird behauptet, »dass es sich bei den Evangelien um Lebensbeschreibungen Jesu handelt«”.
Lindemann: “Das wird seit Jahrzehnten von keinem ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet. “
Die (angebliche) Faktizität Jesu -wie kolportiert, sprich kanonisiert- kann sowieso nur “ernsthaft” proklamiert werden, wenn man sie wider jede Wissenschaftlichkeit gegen die Falsifikations-Optionen der Apokryphen abschirmt, die vor allem eine andere theologische Gangart offenbaren würden: Eine gnostisch inspirierte Intention nämlich, die wiederum gar keinen Bedarf an historischer (im Sinne von archäologisch/wissenschaftlich evidenter) Untermauerung benötigt, weil diese ja vielmehr in einem viel weiteren, hermetisch- mythologisch beschreibbaren Wirk- Kontext der Entfaltung eines ausdifferenzierten (“finalen”, zeiten- und kulturunabhängigen) Transzendenzverständnisses (beispielsweise in Absetzung zum AT oder dogmatisch interpretierten NT )zu verstehen ist.
Ist man aber hingegen der Meinung, die Faktizität der Person und des Wortes Jesu leite sich eben gerade nur aus den kanonisierten Schriften ab, versucht der Dogmatiker dies so zu begründen, daß eben die Konzilsentscheidungen, die zu eben jener Kanonisierung führten, göttlich inpiriert sind (wie es prinzipiell theologischer Konsens ist). Dies aber verlagert die Problematik nur um einen Schritt, da nun die Faktizität mit dem Glauben an die göttliche Inspiriertheit dieser Beschlüsse steht oder fallen muß, worüber es nun nicht die allergeringste Evidenz gibt und was somit seinerseits zum reinen -und noch komplexeren und widervernünftigeren Glaubensakt zu werden hat.
Und noch ein Zitat zur zweifelhaften Geschichtlichkeit Jesu vom Autor H. Detering: “… weiß man heute wieder, dass die Verehrung sterbender und auferstehender Gottheiten in der Antike sehr verbreitet war. Die Mythen eines Attis, Adonis, Dionysus, Herakles weisen –– trotz unterschiedlicher Einzelheiten – im Kern das gleiche Grundmuster auf wie die Überlieferung über Tod und Auferstehung Jesu. Klage- und Auferstehungsfeiern für Adonis, Attis und andere Kultgottheiten waren über den ganzen Mittelmeerraum verbreitet und fanden teilweise zu derselben Zeit statt wie Karwoche und Ostern.
Das Christentum hat den Grundgedanken des sterbenden und auferstehenden Mysteriengottes mit dem des auf die Erde kommenden und wieder zum Himmel fahrenden gnostischen Erlösers kombiniert und daraus einen ganz selbstständigen, eindrucksvollen Mythos geschaffen. Der war ursprünglich noch ohne zeitliche Fixierung. Erst gegen Mitte des 2. Jahrhundert entstanden daraus die heutigen Evangelien. Darin wird Jesus als geschichtliche Person unter Pontius Pilatus dargestellt. Zugleich wurden dabei die kirchlichen Auseinandersetzungen des 2. Jahrhunderts in die vermeintlichen Anfänge im ersten Jahrhundert zurückprojiziert. Die Weichen für diese ganze Entwicklung wurden in Rom gestellt.“