Sein und Nichtsein

“Der reale Fluss der Zeit und damit das Verborgensein der Zukunft sind nur eine Seite der Realität. Jenseits der von uns erlebten (und real verfließenden) Zeit muss es eine ‘zeitlose’ bezeihungsweise ‘zeitflußlose’ Ordnung geben, in der alle für uns nacheinander ablaufenden Ereignisse koexistent vorhanden sind, wie auch jenseits des Raumes, der ebenfalls keine bloße Illusion sein kann, eine Ordnung herrschen muß, in der räumlich getrennte Ereignisse eng miteinander verbunden sind. So wurde schon im alten Indien Maya, die raumzeitliche Wirklichkeit, nicht als reiner Schein angesehen (obwohl es oft so behauptet wird), sondern als etwas Wirkliches, das aber bloß vordergründige, nicht letzte Wirklichkeitsebene ist.” (Walter Bloch)
Wikipedia: “Aus der Feststellung, dass Maya einerseits diese Erscheinungswelt offenbart (bzw. projiziert) und gleichzeitig die letzte Wirklichkeit verhüllt, ergibt sich ein Paradoxon, das Shankara als ‘weder Sein noch Nichtsein’ bezeichnet hat. Die Übersetzung von Maya als Illusion im Sinne von Nichtsein ist fehlerhaft, da sie… erfahrbar ist. Andererseits kann ihr aufgrund ihrer Relativität auch kein absolutes Sein zugesprochen werden.
Swami Vivekananda sagt darüber: ‘Diese Welt hat keine Existenz.’ Damit ist gemeint, sie habe kein unbedingtes Dasein, da sie nur in unserer Sinnesvorstellung besteht. Diese Welt wird durch unsere fünf Sinne wahrgenommen und wir müssten eine völlig andere Vorstellung von ihr haben, wenn wir einen oder einige Sinne mehr hätten; deshalb hat sie keine wirkliche, unveränderliche, unbewegliche, unendliche Existenz. Ebenso wenig kann man aber von Nicht-Existenz sprechen, da sie ja da ist, und wir in ihr und durch sie wirken. Sie ist eine Mischung von Sein und Nichtsein. (Swami Vivekananda: Jnana-Yoga)”

Es geht bei der Klärung des Wesens der Raumzeit also nicht um eine ganze Nichtung ihres Gehaltes per defintionem, sondern viel eher soll eine ontische Einordnung vorgenommen sein: Die Welt ist in dem Sinne vorhanden, als wir sie wahrnehmen, Berkeleys esse est percipi. Sie ist hierbei erst Gestalt geworden, und daher ist sie überhaupt (als Welt). Gestalt ist insofern variant, als sie in ihrer sichtbaren Ausformung nicht auf eine unverrückbare apriorische Vorgabe zurüzuckführen ist, sondern vielmehr das wahrnehmende Agens Gestalt als Interpretationsergebnis erst liefert- so kann man auch sagen: Wahrnehmung, variierend im Radius der Wahrnehmungsmöglichkeit und Wahrnehmungsart – oder anders gesagt: variierend von Gattung zu Gattung – bildet entsprechende Welt(en) als ihr Resultat (auch intersubjektive Sicht ist Interpretation, im Sinne einer gattungsspezifischen Einigung).
Doch besteht darüberhinaus eine tiefere Wesenhaftigkeit, die von jeder Sicht unabhängig ist – denn die Welt-Sicht im Ganzen ist schon hervorgebracht durch das vor-räumliche Wesen selbst in seinem Veräußerungsdrang und seinem Sinn zur Spezialisierung. Insofern auch ist raumzeitliche Wirklichkeit, die Vielheit also innerhalb des erlebbaren Zeitflusses, in ihrer Vorhandenheit beides: Hervorbringung aus einem Explikationsdrang der geistigen Apriorien (als Intentionen zur Form und hierin schon doch wesenhafter und wahrer als die Form selbst) und doch ist sie in dieser nur durch das Ansehen aus der veräußerten Sicht heraus vorhanden. Somit ist uns unsere Wirklichkeit da und doch schwindet sie, je tiefer wir auf sie blicken können.