Baum der Erkenntnis

“Eine Erklärung dafür, warum der ‚Todesbaum’ überhaupt im Paradies steht und damit die ursprüngliche Harmonie gefährdet, warum der ‚Ungehorsam’ oder die ‚Ungerechtigkeit’ des ‚Urpaares’ solche Folgen für die ganze Menschheit haben kann und wie die Sündenfall-Erzählung damit vereinbar ist, dass auch Tiere sterben und das Los von Mensch und Tier gleich ist, unabhängig von aller ‚Gerechtigkeit’ (vgl. Koh 3,16-21), gibt weder das Weisheitsbuch noch der Katechismus der Katholischen Kirche.
Den Namen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse erhält der Baum in Gen 2,9 im Vorgriff auf das Versprechen, das die Schlange Adam und Eva macht: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse” Damit ist aber gerade nicht, wie H. Junker von 2 Sam14,17 zeigen will, „ein übermenschliches, an Allwissenheit grenzendes Erkennen […], wie man es dem ‚Engel Gottes‘ zuschrieb”, gemeint. Vielmehr bedeutet die gewonnene ‚Erkenntnis’ den Verlust der Einsicht der göttlichen Weisheit zugunsten eines bloßen irdischen Vielwissens, wie es in dem animalischen „Tierfell” (Gen 3,21) zum Ausdruck kommt. „In der Struktur dieses Wortes [erwa = Scham, Schande] ist der Begriff ‚or’, 70-6-200, Fell, aber auch ‚iwer’, blind, zu erkennen, denn ‚erwa’ hat mit ‚Blindheit’ zu tun.” (Friedrich Weinreb)
Zu solchen  gewohnten vagen Einlassungen und Mutmaßungen  läßt sich hier alternativ  eine ganz andere – man möchte sagen: eine fast beklemmend einfache oder offensichtliche  Deutung anbahnen, von der ich nicht einmal weiß, ob sie jemals versucht wurde:
Der Baum der Erkenntnis  steht schlicht für das ‘religiöse Entheogen’, für die psychotrope schamanische Pflanze, die in verschiedener Art allen Völkern bis zurück zur Urzeit bekannt war und daher prinzipiell an der Wiege jeder Religion stand – Schamanismus ist Urreligion, im historischen Sinne, aber auch im definitorischen Sinne einer Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit von transzendentem Inhalt- der erst nachfolgend institutionell zum Glaubensinhalt herabgesetzt wurde. Der Gebrauch der Entheogene war es , der durch eine Änderung der erlebten Bewußtseinsinhalte bewirkte, daß man zu einem Wissen um weitere Existenzebenen kam, daß man seinerzeit erkannte, daß die  eigene Raumzeit transzendenzfähig ist –  im Sinne einer Teilhaftigkeit an einer so zu bezeichnenden  metaphysischen Empirie. Die in die Hochkultur eingegangenen Formen dieser entheogenen Sakramente kennt man unter  den Begriffen wie Soma (Vedische Kultur), Haoma, (zoroastrische Religion), Ambrosia für die griechische Kultur (ethymologisch verwandt mit Amrita, einer anderen indischen Bezeichnung für  Soma) oder weiter nur als teils Benannte oder ganz Ungeklärte   für die griechischen Mysterien wie etwa diejenigen von Eleusis. Gemein ist dem Gebrauch dieser Substanzen, daß sie dem Probanden Unsterblichkeit verleihen oder einen Einblick in die göttlichen Sphären  ermöglichen. Der Ausruf  der  Mazdaisten unter der Wirkung von Haoma hieß: “Wir haben das Land der Götter gesehen!”
Es handelt es sich bei der biblischen Erzählung nun also entsprechend um die Zurückweisung des Entheogens, und somit also   um eine Sanktionierung der Teilhabe am geistigen oder feinstofflichen Raum, an den Aufwärtshypostasen, (Hypostasenfeindlichkeit -oder Hypostasenfurcht!) was auch im späteren Theurgie-und Magieverbot der Kirche zum Ausdruck kam, nur Gott allein soll das Ziel aller Bemühung sein – wesenhaft bleibt Gott aber für alle Ewigkeit unerreichbar,  und zugleich ist er personalisiert, daher meint der Aufstieg ein Passives, ein Erlöstwerden, kein Entwickeln und selbstätiges Erschließen.  Die Hypostase der Vielheit, der eigentliche  Konfigurationsraum der Welt(en), wird zu einem  Gebiet der Restriktion, soll gar keine Bedeutung, kein Interesse haben. Diese Verwerfung und Entwertung  begegnet uns  durch die Zeit wiederholt, wie etwa in der Schule der Rosenkreuzer (die hier von der Spiegelsphäre sprechen)  sowie vorher auch schon (in anderer Intention)  in der Deutschen Mystik bei Meister Eckhart oder gerade auch im Buddhismus.
Die Konsequenz aus dem Genuß des Baumes (der Fall des Menschen)  ist hier also keineswegs als eigentliche Wirkung  seiner Frucht zu begreifen, sondern seine tatsächliche Wirkung -die also sehr wohl Erkenntnis im göttlichen Sinne meint,  in der Abweisung dieser Tatsache  irrt Weinreb fundamental – wird durch die väterliche Sanktion genau umgekehrt. Insofern könnte man hier (über die Sanktionierung der Hypostasenschau hinaus) von einer antignostischen Parabel sprechen, einem  ideologisierenden Kniff, der die Zurückweisung ontologischer Teilhabemöglichkeit proklamiert und unter Strafe stellt – sogar als das Vergehen schlechthin erklärt.  An die Stelle der eigenen spirituellen Option tritt ein Gottesbild, das für Untergebenheit, Devotion,  die Abhängigkeit einer  Vater-Kind Relation steht.  (Was von Störig als typisch hebräisches Denken bezeichnet wurde.)
Handelte es sich hier um ein  Versagen in die Einsicht der Dinge oder geht es noch viel simpler um schlichten Priesterbetrug, also dem Vorenthalt des Sakramentes vor der Menge zur eigenen Machtabsicherung?
Auch in den Apokryphen finden wir übrigens eine Warnung  für die höheren Bereiche, die aber  kein restriktives Konzept nach sich zieht, sondern als praktische Handlungsanweisung  zum ‘feinstofflichen Vollzug’ aufzufassen ist: “…hüte Dich vor den Engeln der Armut und den Dämonen des Chaos und all denen, die dich umgarnen, und hüte dich vor dem tiefen Schlaf und der Einengung der Innenseite der Unterwelt.” Und nun aber: Steh auf und erinnere dich, denn du bist es, der gehört hat, folge deiner Wurzel.” Man beachte hier also gerade die platonische Implikation zur (spirituellen) Freiheit und  Eigenverantwortung.