Voltaire, Moral

 Voltaire: “(Kaiser) Konstantin beharrte nicht bei seinem Entschlusse, beiden Parteien (Bischof Alexander und Priester Arius) Stillschweigen aufzuerlegen. Er hätte die Häupter des Egotismus können zu sich in den Palast kommen lassen. Er konnte fragen, wer ihnen das Recht gegeben habe, die Welt in Gärung zu bringen. ‘Habt ihr das Geschlechtsregister der göttlichen Familie? Was geht es euch an, ob der Logos geschaffen oder gezeugt ist? Genug, wenn man ihm treu ist, eine gute Moral predigt und sie nach Vermögen ausübt.” (Und in Hinsicht  auf Konstantins eigene Biographie:) “Hindert mich nicht, das einzig Gute zu tun, was ich kann, um meine vorigen Grausamkeiten in Vergessenheit zu bringen, und helft mir, meine Tage in Frieden zu beschließen.”
 Ist diese Einstellung Konstantins aber suffizient? Schließlich ist der Begriff der Moral  dem Logos geschuldet und wird wohl daher adäquat zu dessen vertieftem Verständnis auch eine zunehmend bessere Vorstellung über sich selber abgeben können. Was ist denn genauer diese Moral, von welchem Wert ist eine Ethik, wenn sie nicht befriedigend in der Wahrheit fußt? Wenn sie gar im Dienste falscher Götter oder Kulte stehen könnte?  Zuletzt konstituiert sich das Ethische aus der Wahrheit und nicht aber die Wahrheit aus dem Ethischen –  was heute wohl gerne vergessen ist – und offenbar findet ein Unwillen über diesen Verhalt schon bei Voltaire eine wirksame Richtungsweisung für die Neuzeit, die dann die Frage nach den höheren Wahrheiten per se kaum noch zulassen mag. Ein solches pragmatisches und nicht erkenntnisgeleitetes Plädoyer kommt dabei gerade dem theistisch-Dogmatischen, dem Kircheninstitutionellen entgegen, verbirgt hinter einem vermeintlich progressiven Proklamat (des Toleranzgedankens) tatsächlich eine Nähe zu konservativistischer Mediokrität (der hierzu erforderliche  interreligiöse common sense hat damals so wenig existiert, wie heute), die eine weitere Nachfrage als Affront, als  Vergehen gegen Gottes Unerreichbarkeitsdiktum auffasst – und so auch die aufklärerische Position, dem Menschen nämlich elementare Erkenntnisfähigkeit zuzusprechen, dem unspezifischen (theistischen) Tabu-Raum des Numinosen preisgibt, zugleich aber auch die ur-jesuanische Verbindlichkeit und  Aufforderung zur Positionierung in einer  gut und böse-polarisierten Welt, den auch anderen religiösen Systemen inhärenten Begriff von der Welt als Platz der Bewährung durch Entscheidung,  zu gunsten einer gemittelten Oberflächen-Moral des doch nie suffizienten kleinsten Nenners fallen läßt.
 Dies, obwohl Voltaires Präferenzen durchaus bei Solon, Pythagoras, Zaleukus, Sokrates, Plato oder Epiktet liegen,  bei Denkern also, denen das Fragen schlicht das wichtigste ist. Schließlich muß er um Platons Diktum von der Seele wissen, die alles innehatte und alles erinnert, wenn sie nur bereit ist zu fragen. (Und Wissen birgt im zweiten Schritt Entscheidung und daher Scheidung!)
Voltaire läßt Konstantin nun weiter sprechen: “Möchten doch alle Menschen sich erinnern, daß sie Brüder sind! Möchten sie doch alle Tyrannei über die Seele ebenso wie den Straßenraub verabscheuen, der ihnen die Früchte der Arbeit und ihres ruhigen Fleißes nimmt.”
Möchten aber die üblichen Religionen hierzu beitragen, indem sie vom Menschen zurücktreten (und der ökumenische Gedanke: nicht die Verständigung unter den Kulten, sondern die gemeinsame Überwindung!), denn was ist schließlich, wenn die Tyrannei über die Seele in Gottes Namen vonstatten geht –  dies best-herleitbar aus den Schriften, was, wenn gar der gemeinte Gott gar nicht Gott ist? Was, wenn Gott schon demiurgisch verstanden, eine Schmälerung oder gar Travestie des Göttlichen darstellt? Wenn eben dieser Gott, der Gott der Theisten, die eben außer ihrem System nie etwas anderes anzuerkennen imstande sind, gerade  eben selbst für die Tyrannei über die Seele zuständig ist, die Anhänger in Befangenheit und Defizienz haltend, verharrend im Dogma und erstorbenem Symbol (was nur dort  noch Kraft hat, wo es unreflektiert Trennendes hervorbringt) und tatsächlich nicht die Frage in Erwägung ziehend nach dem “göttlichen Register” (in uns) ? Wie schon angedeutet gleichen sich der aufklärerische Toleranzgedanke Voltaires und der theistische Dogmatismus insofern also an: Beide fragen nicht nach dem inhärenten Kern und der  verbesserten Definition von Religion. Sie wagen nicht, fragen nicht, gehen nicht an den Grund der Sache, sondern affirmieren zuletzt den Irrtum mit allen lebenspraktischen Inkonsistenzen und  affirmieren eben dieser Art auch alle  bekannte innere und äußere Verwerfung.
Und zuletzt noch ein Wort zum Satz über die Tyrannei, über Voltaires Verabscheuung des Straßenraubes, der den Menschen “die Früchte der Arbeit und ihres ruhigen Fleißes nimmt.”  Im historischen Kontext gibt dieser Raub schlicht ein passendes Bild für die äußeren Bedingungen der kirchlichen Institutionalisierung und der einhergehenden Bereicherungen und Plünderungen verschiedenster bekannter Art.