Kontinuum (Tantra)

G. Coleman: “Das Sanskrit-Wort Tantra bedeutet wörtlich Kontinuum oder ‘ununterbrochener Fluss’, der von grundlegender Unwissenheit zur Erleuchtung fliesst. Der Begriff steht für die Kontinua von Grund, Pfad und Resultat. Durch das Kontinuum des Pfades wird das ursprünglich gegenwärtige Kontinuum des Grundes verwirklicht oder vollständig als das Kontinuum des Resultates manifestiert. Da das Tantra fortgeschrittene Techniken umfasst, die es erlauben, unstimmige Geisteszustände wie Begehren, Anhaften und Hass, Abneigung ohne Abkehr, Entsagung oder Zurückweisung in Zustände der Verwirklichung umzuwandeln (Einsicht in das geistige Kontinuum und dessen Umwandlung [zum erleuchteten Zustand]) , kann der Praktizierende ein ununterbrochenes Kontinuum zwischen seinem anfänglich gewöhnlichen Geist, dem fortgeschrittenen Geist auf dem Pfad und dem sich als Resultat ergebenen vollkommenen Erleuchteten Geist des Buddha kultivieren. Sechs Klassen repräsentieren Stadien der immer weiter abnehmenden Betonung von äußeren Ritualen und der immer weiter zunehmenden Subtilität der inneren Meditation.”
In dem Kontext sei hier ein auf den ersten Blick überraschend wirkender Sprung zu Nikolaus von Kues getan: Er entwirft ein System von Handreichungen, “für einen im Sinnlichen anfangenden Rückgang ins Intelligible.” (W.Beierwaltes) Zugrunde liegt hier ebenfalls eine Zusammenführung von Immanenz- und Transzendenzgedanken, und dies offensichtlich als cusanische Reminiszenz an Meister Eckhart bezüglich  der Befähigung des Menschen zur “lichthaften, wissenden Erfahrung des Grundes.” (Cusanus)
Cusanus: “Nach dem sinnlichen Bilde gedenke ich euch, geliebte Brüder! auf dem Weg frommer Betrachtung in das Gebiet der mystischen Theologie zu erheben.”
Die tantrische Prämisse ist also gerade auch außerhalb eines sich intitutionalisierenden Sakral-Bezuges zu denken und so vollständig auf das ganze eigene Sein, somit auf einen  allezeit und alltäglich manifesten Zustand übertragbar. An Stelle des Rituals setze man tägliches  und stetiges Gewahrsein und begreife so alle Handlungen und Abläufe und Szenarien ihrer Eigentlichkeit nach als Transmissions-Faktoren zu einer fortschreitenden Erkenntnis immanenter Substanzialität (des Höheren). Hierbei geschieht auch eine Überschreitung des diskursiven Intellektes  (ohne diesen aber aufzuheben), denn solche Durchdringung meint vor allem auch  lebenspraktischen Vollzug (im Aufstieg) zu dem, was ‘hinter dem Geist‘ ist, zu dem in seiner Wesenheit ganz den Geist Übersteigenden und so zur Erfahrbarkeit  der diesem eigenen (prinzipiell unverkündbaren) Subtilität. Hierin liegt zuletzt die Aufforderung zu einer Angleichung, einer Gleichwerdung mit dem Immanenten  in seiner Hiesigkeit und Verfügbarkeit als transzendente Gabe.
Gerade in diesem Sinne erlangt also der Begriff vom ‘Kontinuum’ erst seine eigentliche Bedeutungstiefe. Das gesamte Dasein wird von jener beschriebenen Durchdringung erfasst und durchwirkt, so daß schließlich nichts außerhalb ihm verbleibt.