Lebenszwecke

C.G. Jung: “Der Mensch würde gewiß keine siebzig oder achtzig Jahre alt, wenn diese Langlebigkeit dem Sinn seiner Spezies nicht entspräche. Deshalb muß auch sein Lebensnachmittag eigenen Sinn und Zweck besitzen und kann nicht bloß ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein. Der Sinn des Morgens ist unzweifelhaft die Entwicklung des Individuums, seine Festsetzung und Fortsetzung in der äußeren Welt und die Sorge für die Nachkommenschaft. Das ist der offensichtliche Naturzweck. Aber wenn dieser Zweck erfüllt ist, soll der Gelderweb, die Weitereroberung und die Existenzausdehnung über jeden vernünftigen Sinn hinaus beständig weitergehen? Wer solchermaßen das Gesetz des Morgens, also den Naturzweck, in den Lebensnachmittag ohne Not hinüberschleppt, muß es mit seelischen Einbußen bezahlen. … Gelderwerb, soziale Existenz, Familie, Nachkommenschaft sind noch bloße Natur, keine Kultur. Kultur liegt jenseits des Naturzweckes. Könnte also Kultur der Sinn und Zweck der zweiten Lebenshälfte sein?”

Das für die Hiesigkeit und ihre Anforderung ganz Unpragmatische, das keine äußeren Intentionen entsprechende Interessen verfolgt, entwickelt den Mensch zu seinem Wesenskern. Dieser bleibt verstellt, solange unentwickelt und unentdeckt ist, was ihn ausmacht, daher muß er sich scheiden und unterscheiden vom Außen in seine Eigenheit (durch Schöpfung). Zwar drängt gerade der junge Mensch eben zu seiner inneren (mitgebrachten, ursächlich nach Entwicklung strebenden) Anlage, die Faktoren der Daseinssicherung wie auch soziale äußere Beeinflussungen aber entreißen ihn bei Zeiten der Intention, ihr zu folgen. Oftmals bleibt dann viel später, zur zweiten Lebenshälfte nur Kompensation arbeitsamer und pflichterfüllter Zeit durch äußere Aktivität und bestenfalls wehmütige Erinnerung an vergangene – empfundene – Seinstiefe.
Anders kann man sagen, man steht ganz in der Welt des äußeren Tuns, in einer Welt sich interaktiv bedingender (vermeintlicher) Notwendigkeiten, die über die Daseinssicherung und ihre Kompensation (etwa als Zeit-Vertreib, sic!) nicht hinauskommen. Dies hindert uns selbstredend an der Kraft und dem Telos der eigentlichen Art unseres Wesens in seiner unbedingten Wichtigkeit und Entfaltung gegenwärtiger Präsenz.

Don Juan spricht bei Carlos Castaneda: “Dein Problem ist, daß du die Welt mit dem verwechselst, was die Leute tun. Damit stehst du nicht alleine da. Jeder von uns tut das. Die Dinge, die die Leute normalerweise tun, sind Schilde gegen die uns umgebenden Kräfte. … Ein alter Mann hat die Welt nicht ausgeschöpft. Er hat nur ausgeschöpft, was die Leute tun. Aber in seiner törichten Verblendung glaubt er, die Welt habe keine Wunder mehr für ihn. Welch erbärmlichen Preis bezahlen wir für unsere Schilde.”