Durchdringung

C. G. Jung: “Wie ich schon vorhin erwähnte, entspricht die unwiderstehliche Neigung, vorzugsweise aus dem Physischen zu erklären, der horizontalen Bewußtseinsentwicklung der letzten vier Jahrhunderte. Die horizontale Tendenz ergibt sich als Reaktion auf die ausschließliche Vertikale des gotischen Zeitalters. Es ist eine völkerpsychologische Erscheinung, die als solche immer jenseits des individuellen Bewußtseins steht. Genau wie die Primitiven, handeln wir zunächst ganz unbewußt, um erst nach langer Zeit zu entdecken, warum wir so handeln. In der Zwischenzeit begnügen wir uns mit allerhand unzutreffenden Rationalisierungen.
Wären wir uns des Zeitgeistes bewußt, so wüßten wir, daß wir die Neigung haben, vorzugsweise aus Physischem zu erklären, weil man früher zuviel aus dem Geist erklärt hat. Dieses Wissen würde uns sofort kritisch stimmen in Bezug auf unser ‘penchant’ (Neigung). Wir würden uns sagen: höchstwahrscheinlich machen wir jetzt den umgekehrten und darum den gleichen Fehler. Wir überschätzen die materiellen Ursachen und meinen, jetzt erst hätte man die richtige Erklärung, weil wir uns einbilden, der Stoff sei uns bekannter als ein ‘metaphysischer’ Geist. Der Stoff ist uns aber genauso unbekannt wie der Geist. Über die letzten Dinge wissen wir nichts. Erst mit dieser Einsicht kehren wir in den Gleichgewichtszustand zurück.”

Solch ein Ausgleich, der heute umso notwendiger wäre, würde die evident-wissenschaftliche Durchdringung und Gestaltung des Materiellen ebenso betreffen wie die Durchdringung dessen a-materieller Grundierung und einer zeitlichen Relativierung unseres Lebensraumes. Materie und Metawelt bilden ja keinen Widerspruch, denn die eine bringt die andere hervor. Die Hierarchisierung der Bereiche soll das Lebensweltliche nicht in dem Sinne leugnen, das es schließlich kein Zielobjekt der Gestaltung mehr sei, sondern im Gegenteil: Es soll zu einer Gestaltung und Durchwirkung der Hiesigkeit kommen, die zu ihrer Urgrundhaftigkeit und Synthese leitet und das Telos der Hebung zum Feinstofflichen im Lebensweltlichen durchexerziert. Feinstofflichkeit benutze ich als Synonym für Geist, Nous, Noussphäre.