Gnostischer Jesus, Wahrheitsauftrag

Thomasevangelium (Logion 10): Es sagte Jesus: “Ich habe Feuer auf die Welt geworfen und siehe, ich hüte es, bis es lodert.”
Thomasevangelium (Logion 16): Jesus sagte:”Vielleicht denken die Menschen, daß ich gekommen bin, um Frieden auf die Welt zu werfen, und sie wissen nicht, daß ich gekommen bin, um Spaltungen auf die Erde zu werfen, Feuer, Schwert, Krieg. Es werden nämlich fünf in einem Hause sein. Drei werden gegen zwei und zwei gegen drei sein, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden als Einzelne dastehen.”

Wie sind diese auf den ersten Blick unerwarteten Äußerungen Jesu aus den Texten von Nag Hammadi zu verstehen? Sie sind eben im Sinne des Wortes ganz gnostisch, auf das Erkennen gerichtet, und sie zeigen dabei eine daran geknüpfte Priorität, nämlich einen Heilsauftrag, der eng an das Wissen gebunden ist.
Hierzu läßt sich ein passender neuplatonischer Satz bemühen, (wie überhaupt das Neuplatonische dem Gnostisch-Christlichen näher steht als das Latinisiert-Christliche dem Gnostisch-Christlichen): “Das Seiende ist nur im Modus des gleichbleibenden Eidos, das allein dem Auge der Seele erblickbar ist, vor Verbiegungen zu schützen und die noetische Dimension als die der eigentlichen Wahrheit festzuhalten.” (Volkmann-Schluck) Dies aber spiegelt die eigentliche Art des jesuanischen Auftrages, das Wort Gottes soll in diesem Sinne in die Welt getragen sein. (Johannes 18: 36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Johannes 18:37 Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.) Hier geht es -wie man sieht, auch im kanonisierten Bibeltext- um die Proklamation der ganzen Sinnhaftigkeit des Kreuzestodes durch den Kernsatz “Mein Reich ist nicht von dieser Welt.” Jesus überwindet den Tod, indem er ihn schließlich sucht (was in der Bestimmung seiner Inkarnation angelegt ist), um ihn aber so für ungültig zu erklären, indem er durch das Geschehen die Relation von Leben und Tod neu darzustellen vermag (um die Bedeutung von Leben und Tod gar umzukehren, was ebenso sokratisch ist) und damit den Unwissenden den Tod als subjektiv menschliche Bedrohung zu entkräften und ihn als Beendigung des weniger wahren Daseins zu einem eigentlichen höheren Dasein zu beschreiben.
Es ist dies -um die Diktion der Eingangszitate aufzunehmen- ein Feldzug gegen die Unkenntnis, die den Menschen in der Knechtschaft von Sterblichkeit und Furcht und Unterwürfigkeit hält, und so ein Kampf für die Wahrheit. Und der gnostische Jesus spricht dem Menschen diesbezüglich eine fundamentale Befähigung zu, indem er sagt: “Es ist ein Licht in jedem Lichtmenschen”. Der Auftrag zur Verkündung wird hier überaus zentral: Gefordert ist zur Erlösung und Befreiung die Erkenntnis über das Wesen der Welt in ihrem wahren Sinne. Zuvorderst ist dies eine ontologische Frage, also eine Frage, die die Erklärung des Seins betrifft. Und diese Frage nach den Seinsbedingungen ist -was viele nicht ahnen- von stupender Konkretheit, die Anmerkungen Jesu meinen gar kein Entrücktes, sondern sie bieten physikalische und geographische Bestimmung – sie bieten Klärung der Verhältnisse und der Rätselhaftigkeit der Existenz im und für den Standpunkt der Immanenz!
Auch das Ethische resultiert zuletzt aus dieser Bestimmung. Gerade auch für das Ethische ist aber die Erhellung und die Befreiung aus der Wirrnis -die folgerichtig auch für allen Irrtum und alle Lüge und das Böse selbst verantwortlich ist, von Vorrang, die Welt soll aus dem Dunkel zur Erhellung, zur universalen Wissen-schaft – eben zur Wahrheit – geführt werden. Die Kirche hingegen verlagert allen Aufstieg in die Vollmacht und Verantwortlichkeit eines personal gedachten Gottes -Jesus’ Geschichte wird zum reinen Symbol für eine prinzipielle Entrückung des Noetischen, und die Erlösung kann nur innerhalb einer Konstellation vollzogen werden, die einem Kind-Vater Verhältnis gleichkommt und -wenn überhaupt- ausschließlich durch ethisches Handeln positiv beeinflusst werden kann. Die Lehre Jesu aber gibt folgende Klarheit: Die Ethik liegt in der Wahrheit, nicht aber liegt die Wahrheit in der Ethik! Das Resultat jedoch der kirchlichen Anschauung bedeutet ein Verharren, eine Verstetigung in der Unwissenheit zur Bestätigung der Gefallenheit und Affirmation des Todes. Hier ist Leben nicht Entwicklung, nicht Vitalität. Daher auch die Priorität der düsteren jesuanischen Leidens- und Todespose vor der hellen transformatorischen Pose der Auferstehung.