Nietzsche, Schopenhauer, Ethik

Gunzelin Schmid Noerr:
“Moral geriet (bei Nietzsche) eher unter skeptischen Generalverdacht. Diesen Ideen gab Nietzsche auf höchst eigenwillige Weise Ausdruck, indem er sie zugleich zu einer Art Zukunftsmoral überhöhte. Seine Auffassung läßt sich durchaus als Gegenentwurf zu Schopenhauers Mitleidsethik verstehen. Hatte Schopenhauer die trüben Beimengungen des normalen moralischen Handelns herausgefiltert und nur das vollständig uneigennütze Handeln, das er mit dem Mitleid gleichsetzte, als moralisch wertvoll anerkannt, so radikalisierte Nietzsche nun diese ethische Kritik der Moral, indem er auch am Mitleid neue Schattenseiten, nämlich Machtimpulse, bloßlegte. Es mochte der Heuchelei, der Neugier, der Sentimentalität, der Unterwerfung, der Überwältigung, der Verstellung und anderer Winkelzüge dienen. So konnte es jede nur mögliche Funktion im Maskenspiel des ‘Willens zur Macht’ übernehmen. Letztlich sind die Menschen, so Nietzsche, nicht zur Verneinung ihres Egoismus in der Lage, der die einzige Triebfeder ihres Handelns darstellt. … In diesem Sinn bezeichnete beispielsweise Dolf Sternberger das Mitleid als das ohnmächtige Lösemittel der verhärteten sozialen Verhältnisse, ein Mittel zum Ausgleich und Schutze gegen Kritik, das Sammelbecken der aus Markt und Börse entwichenen Menschlichkeit, gern und wohlwollend betrachtet, eine verschlossene Arznei und ein kraftloses Arkanum.”
Man kann nun hierzu bemerken:
Von Nietzsches Denken her wird das Moralische im Prinzip einer kritischen psychologischen oder psychosozialen Betrachtung unterzogen. Tatsächlich ist all sein Einwand durchaus dienlich, um hiermit ein wahres Wesen des Ethischen zu ermitteln bzw. zu untersuchen, ob ein solches überhaupt proklamierbar ist. Löst sich das Moralische dadurch aber in sich gegenseitig bedingende “Berechnungen” oder “Zufälligkeiten” und so als unevidentes Konstrukt der verschiedenen menschlichen Motivationen auf, führt eine solche Betrachtung zuletzt zu einer Leugnung der Eigentlichkeit des Gegenstandes, die meines Erachtens unzulässig wird, weil sie zu anthropozentriert bleibt.
Schopenhauer sagt: “Grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen bedarf keiner Kasuistik. Sie ist ontologisch verankert.”
Nietzsche hätte diesen Satz Schopenhauers nicht akzeptieren wollen, war er doch gerade der Kasuistik verhaftet, somit der Welt, den Menschen, ihrer Historie und Psychologie. Zudem sein Weltbild: Sein amor fati war groß gedacht, blieb aber zuletzt doch zu beengend, weil es nie aus der Immanenzvorstellung seiner Zeit (der Newton’schen Raumzeit) ausbrechen mochte, und durch all die Unruhe der divergierenden Blickwinkel drang er so nie durch zum Wesen, zur eigentlichen Essenz der Dinge, die den Dingen aber abzusprechen ein absurdes Unterfangen darstellen muß. Und so sagt Karl Jaspers zu Recht: ‘Wohin will Nietzsche überwinden? Das letzte Wort ist von ihm nie und nirgends gesprochen. ‘
Schopenhauer aber weiß, daß die Ethik nicht Sache der Blickwinkel, nicht einmal Sache der Menschen ist. Ihm hätte die meiste Betrachtung Nietzsches -als ‘Allzu-Menschliches’- als Abhandlung über den Umkreis der Nichtigkeit gegolten, als Untersuchung und Unterscheidung über den Schein.
Oder anders gesagt: Nietzsche übt sich in Bezugnahme auf die äußere Darlegung der Motivationen menschlichen Verhaltens, Schopenhauer betrachtet Qualitäten, die sich im Menschen abbilden, die aber ihrem Grundwesen nach (nach seinen Betrachtungen) schon vor und über dem Menschen angelegt sein müssen, und in der Gewinnung dieser Perspektive kommt es gar zur Überwindung der ontischen Disposition “Mensch” und zur Annäherung an hinausführende, metaphysische Notwendigkeiten. Nietzsche ist beim Ethischen ganz Psychologe, Schopenhauer aber Philosoph. (Und ich bin ganz bei Schopenhauer.)