Vielheit in der Anschauung

H.v. Glasenapp:” Während die meisten abendländischen Metaphysiker…ihre Anschauungen für der Weisheit letzten Schluß ansahen, haben manche Inder schon seit der vedischen Zeit die Meinung vertreten, daß es eine für alle Menschen und alle Zeiten gültige religiöse oder philosophische Erklärung nicht geben könne, sondern daß nur eine Vielheit von Anschauungsweisen von verschiedenen Standpunkten aus je einen Teilausschnitt der für das Fassungsvermögen der Sterblichen unerkennbaren höchsten Wahrheit zu vermitteln vermag….
Diese ´dynamische´ Einstellung zum Wahrheitsbegriff hat den indischen Philosophen schon frühzeitig die Erkenntnis ermöglicht, daß alle Versuche, die Welt zu deuten, stets nur provisorischen und symbolischen Wert haben können.”
Und diese Haltung korreliert gut zu den Grundintentionen des gnostischen Christentums: “Die epinoia [der erste passive Aeon]gewähre lediglich Winke und Andeutungen, Bilder und Geschichten, die in unvollkommener Weise über sich hinausweisen auf Dinge, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vollständig begreifen können.” (Elaine Pagels)
Eine Erkenntnis, die in den orthodoxen abrahamitischen Religionen bis heute nicht durchgestossen ist und die ab der Konstantinischen Wende dem kirchlichen Anspruch und gegenteiligen Ansatz auf Offenbarungs-und somit Ausschließlichkeitscharakter weichen mußte.
Irenäus in seiner Bemächtigung auf das transzendente Erbe (das eigentliche europäische Skandalon: Die Bemächtigung und restriktive Monopolisierung -und dabei Verkümmerung-des Transzendenten durch die Institution Kirche in Verklammerung mit den Herrschenden) brachte sein Unverständnis auf die polemische Formel: “Häretiker wechseln ihre Lehren ungeniert mit der gleichen Häufigkeit, wie eine Hure ihren Aufputz wechselt.” Diesem Anwurf begegneten die Gnostiker seiner Zeit indes mit Schweigen, weil man Irenäus eine niedrige Erkenntnisebene bescheinigte, die eine Auseinandersetzung unmöglich gemacht hätte.
Mit Irenäus´Kanon -auf irrigem Transzendenzverständnis sowie auf staatspolitischer Räson beruhend- reiht sich das Christentum in die Tradition der anderen zwei abrahamitischen Monotheismen. Die Folgen offenbarungslegitimierter Absolutheitansprüche befassen uns seither auf einer ganz profanen Ebene auf das Negativste und sind bis heute (und gerade heute) (Welt-)agendabestimmend. Der Blutzoll war und ist unermeßlich.