Erik Hornung in seinem Standardwerk über die altägyptische Götterwelt, “Der Eine und die Vielen”:
Komplementäre Logik
“Der Ägyptologe spürt, daß ägyptischem Denken eine eigene Stimmigkeit innewohnt, die uns oft gefühlsmäßig überzeugt, ohne daß wir sie mit unseren Kriterien widerspruchsfrei analysieren und formal bestimmen können. Auch wenn wir das Problem von der logischen auf die ontologische Ebene verschieben und mit einem anderen Begriff von Wirklichkeit im alten Ägypten rechnen, bleibt die Frage nach der Definition ägyptischen Denkens bestehen.
Eine typische Denkstruktur der Ägypter ist seit langem herausgearbeitet und oft beschrieben worden: Das Denken in Zweiheiten. … Das größte denkbare Ganze ist das Seiende und Nichtseiende, und Göttliches ist offenbar Eines und Vieles.
…
In seiner Amsterdamer Antrittsvorlesung hat Jan Zandee diese ägyptische Denkstruktur und ihren Widerspruch zum Satz der Identität bereits klar herausgearbeitet. Er stellt sie unter den Schlüsselbegriff des “undifferenzierten” Denkens, der uns nicht zu passen scheint; aber er verwendet..daneben schon die Bezeichnung “komplementär”.
Nichts liegt mir ferner, als die Ägyptologie um eine neue Logik zu bereichern…. Aber der Begriff der Komplementarität spielt seit langem eine bedeutsame Rolle in der Diskussion um die Erweiterung der “klassischen” Logik. Niels Bohr (sic!) hat ihn 1927 in die Physik eingeführt, um das zwielichtige Verhalten der Energiequanten in den Griff zu bekommen, um das Nebeneinander von Ort und Impuls, von Welle und Teilchen zu erklären, was mit Kalkülen der herkömmlichen Logik nicht möglich scheint, sondern eine Quantenlogik oder Komplementaritätslogik erfordert….
Gerade heute, da die zweiwertige Logik der Ja/Nein -Entscheidungen …Triumphe feiert, werden auch die Grenzen ihrer Anwendbarkeit allerorts sichtbar. Dem Beobachter scheint es, als sei die herkömmliche formale Logik, ähnlich wie die “klassische Mechanik”, nur in einem mittleren Bereich sinnvoll und gültig, während sich im sehr großen und im sehr Kleinen die Perspektiven verzerren, neue Denkstrukturen nötig werden.
Solange die Begründung einer mehrwertigen Logik fraglich bleibt, können wir nur eine Perspektive aufzeigen, aber keine gültigen Lösungen. Scheitert die Begründung, dann bleibt ägyptisches Denken, vorgriechisches Denken überhaupt, weiterhin der logischen Willkür oder Verschwommenheit ausgesetzt. Gelingt sie, dann können wir den Einen und die Vielen als komplementäre Aussagen fassen, deren Wahrheit sich im System einer mehrwertigen Logik nicht auschließt, sondern ergänzt: Gott eine Einheit in seiner Verehrung und Offenbarung, eine Vielheit in seinem Wesen und seiner Erscheinung. Ähnlich wäre die Fülle komplementärer Substanzen, die in ägyptischer Sicht die göttliche wie die menschliche Person ausmachen – jede Person hat ein Ba (göttliche Kraft/Freiseele), ist aber auch ein Ba, und dazu vieles andere-in einer mehrwertigen Logik nicht mehr so verwirrend und systemlos, wie es uns jetzt scheinen könnte.
Der Einblick in ägyptische Ontologie hat gezeigt, daß eine absolute Einheit und Transzendenz Gottes, ja jegliche Absolutheit Gottes, der ägyptischen Auffassung vom Sein zuwiderläuft; nur ein Gott, der nicht ist, kann absolute Eigenschaften haben. Die Überlegungen zum ägyptischen Denken legen nahe, daß eine auschließliche und auschließende Einheit Gottes für den Ägypter im vollsten Wortsinn undenkbar ist, weil er in komplementären Aussagen denkt. Darüber hinaus tauchte die Möglichkeit auf, daß ein Monotheismus für ägyptisches Denken logisch ausgeschlossen war und daher, trotz aller Ansätze, nicht verwirklicht worden ist.”