Bei aller Unterschiedlichkeit des Transzendenzverständnisses: Daß die Werke Konsequenz einer Spiritualität sind -und nicht etwa die Spiritualität eine Konsequenz aus den Werken, das ist eine grundlegende Schnittmenge der echten, (eckhart’schen) Mystik wie auch des Lutherismus: Es geht um eine Innerlichkeit, die notwendig nach Außen zur Tat strebt. Weder der Lutherismus noch die Mystik sind ihrem Wesen nach quietistisch.
Dabei begibt sich der Lutherismus auf theologische Abwege wie alle offizielle Theologie – prinzipiell ist der ganze jahrhundertelange theologische Diskurs auf falschen (oder rudimentären) Prämissen gebaut – wie nach dem Goethe-Wort, daß bei einem Reißverschuß, bei dem der Anfang falsch gesetzt ist, alle folgende Akkuratesse nutzlos sei, nach einem weiteren Goethe-Wort dies gar in eine Kirchengeschichte als “Mischmasch aus Irrtum und Gewalt” münden muß. Gerade zur Gewalt und zur Zersetzung hat der Protestantismus erheblichen Anteil geleistet. Die eigentliche Minderung besteht aber darin, daß er eine Emanzipation des Menschen -nämlich zur Angleichung oder Einheit mit dem Einen (Transzendenten) – aufgrund seines Gottesbildes verweigern muß. So möchte ich Nietzsche verstehen, der sagt, der Protestantismus habe letztlich die Errungenschaften der Renaissance bzw, den Rekurs auf die Antike zunichte gemacht.
Der erste innere Impuls der Mystik, der da sagt: “Ich habe echte Teilhabe am Geist, ich fühle dies in mir, ich bin also göttlich beseelt”, ist dem lutherischen “Ich stehe in der Gnade Gottes”, ebenfalls im Sinne von “Ich habe Anteil an der Göttlichkeit” nahe verwandt, denn beides beschreibt oder schöpft im Prinzip aus innerer unvermittelter Erfahrung -als Seelen-Gewissheit (über ein Höheres). In dieser Innerlichkeit und in diesem Anteil-Haben liegt die kritische Distanz zur Mittlerschaft begründet, die ja gerade auch den Protestantismus charakterisiert, im Unterschied zur Mystik dient der Lutherismus sich hiermit einem theistischen bzw. biblischen Verständnis an, dies kann er nicht anders, da er aus mangelnder Autonomiebestrebung -die ein Mangel an Konsequenz ist – von Beginn an der Autorität der Tradition in Gestalt der Schrift ganz ergeben ist und hieran auch nichts in Zweifel zu ziehen vermag. Mystik wie Lutherismus haben aber weiterhin gemein, daß man aus einer inneren Gewissheit und seelischen Zentrierung heraus notwendigerweise eine Aufforderung zur guten, zur moralischen Handlung ableitet, denn diese Handlung, diese Pflicht offenbart sich als notwendiger Selbstvollzug, als ein Überfliessen der erfüllten bzw. inspirierten Seele (dies hat gerade auch Hegel betont, ebenso Fichte). So wahr bzw. authentisch “seelisch” also das lutherische Grundgefühl sein mag, so behindert dessen Theologie doch das spirituelle Fortkommen des Einzelnen (und der Gesellschaft), er trug so gar zum spirituellen Dilemma des Westens bei, weil also sein Schisma kein grundlegendes oder essentielles ist, und dieses die Tradition im Gegenteil affimiert und dabei, obwohl er die geistigen Grundlagen ja wie angedeutet mit der Mystik in einem apriorischen Seelenvollzug teilt, gerade seinen Anteil daran hat, daß die Mystik (die Häresien) niemals einen Ansatz der Institutionalisierung erfahren haben. Andererseits schließt sich ‘Mystik’ und ‘Institution’ auch gegenseitig aus, da Mystik keine Mittlerschaft (auch keine Schrift) und somit keinerlei Hierarchisierung dulden kann. Sie kann sich demnach – soll sie breitenwirksam sein – nur aus sich selbst heraus in der Gesellschaft durcharbeiten, und zwar, wenn der Mensch en gros bereit ist, zu sich sebst zu kommen. (Und das ist er keineswegs). In diesem Kontext auch ergänzend ein Satz über Helmut Plessner, der sich mir hier synchronistisch erschloß: “Einen … Problemstrang macht Plessner in der spezifischen Entwicklung des Luthertums aus, das durch die zwangsstaatliche Organisation in der Landeskirche verhinderte, dass der Einzelne sein religiöses Interesse schöpferisch in die Gemeinde einbringt, und stattdessen einer Verweltlichung religiöser Impulse Vorschub leistete. Hierdurch ergibt sich ein Bruch zwischen Innerlichkeit (Verwirklichung als Person) und Öffentlichkeit bzw. Politik, welcher letztlich zu einer unpolitischen Haltung führt, die gleichgültig ihrer Obrigkeit gegenübersteht.” (wikipedia)