Traditionalismus und Erinnerung

Felix Herkert: “Primat der Erkenntnis, der von allen Traditionalisten so stark gemacht wird: Erkenntnis meint hier aber wesenhafte Erinnerung und insofern ist der Traditionalismus eine Erinnerungsbewegung, in der einerseits das Erinnerte (bzw. Verinnerte) zugleich verwandelt bzw. anverwandelt wird. Und in dieser Erinnerung des Nicht-Vergesslichen, wahrheitsbürgenden Grundes der Tradition darf Erinnerung nicht als äußerlicher Vorgang im Sinne eines bloßen Ins-Gedächtnis-Rufens beliebiger Inhalte, sondern als ein den Vollziehenden verwandelndes Geschehen begriffen werden.”
Dies ist alles richtig, aber man bleibt hier doch  zu sehr in der Andeutung, man verharrt im Schattenhaften einer eigentlich real gemeinten  Ansicht (das Erinnerte ist -dies sei hier nur vorab erwähnt-  genauer besehen eine Aussicht in die Zukunft) , man verbleibt mitunter gar beim Symbol, offenbar weil man  über die Andeutung hinaus keine wirkliche oder nur eine sehr diffuse Vorstellung von dem entwickelt – entwickeln will? – ,  was eigentlich erinnert werden soll  und was dieser Vollzug  dann lebenspraktisch tatsächlich meint.  Platon spricht im Menon aus, daß die Seele alles innehatte und sich dessen gewahr zu werden hat, indem sie sich erinnert, “was lernen heißt”. Was kann dies konkreter bedeuten? Aus Sicht des platonischen monistischen Idealismus geht es um die Rückexplikation oder den Wiederaufstieg der verkürzten Seelendisposition zurück zu ihrer hohen Herkunft,  zu ihrem eigentlichen höheren Sein und Selbst – hier  erschließt sich ein ‘dynamisierter Dualismus’ (der Dualismus von Leib und Seele ist natürlich  zuletzt viel älter als Platon, hier sei z.B. die Orphik genannt(…die -weitergedacht- auf die ‘vorkulturelle’ Dimension des Gemeinten verweist).
Zitiert man nun zum Beispiel  einen Satz der gnostischen Katharer, wird die Disposition des Seelischen etwas plastischer: “Die Menschenseelen selbst sind nicht von hier, sie sind die Engel, die vor Beginn der Zeiten aus dem Himmel fielen und nach dem Tode endlich wieder heimkehren dürfen.”
Es geht also grundlegend um einen Zuwachs am Eigensein, eine Gewahrwerdung, die über einen Seinszustand, der – und dies ist relevant – schließlich  über die von der inkorporierten Perzeption gesetzte Diesseits-Disposition hinaus verweist. Dies meint nun aber  einen instantanen,  lebenspraktischen Vollzug und im Bewußtsein dieser ‘Option’ einen Fortschritt zum  Gewahrsein jener  bereits gegenwärtig immanenten und eigentlichen Existenz oberhalb der raumzeitlichen Bindung und somit ein Selbsverständnis, das die wandelbare Konstituierbarkeit perzeptioneller Manifestation ( Welt, Parallwelten, höhere Dimensionalitäten) erkennt oder -plotinisch ausgedrückt –  in Anbetracht der Hypostase des Geistes von dem Imperativ  ihrer teleologisch nach oben gerichteten Vollzüge auszugehen hat. Da dieser Zustand  raumzeitlich betrachtet gleich einem Zeitpfeil in die Zukunft weist,  meint das Erinnern des Gewesenen -negativ gesprochen die Kompensation des malum metaphysikum, also des Falles aus der ursächlichen Verfasstheit in die Inkorporation –   eine fortschrittliche (progressive!)  und zukünftig anmutende Seinsart, was vom traditionalen Standpunkt, der eine  latente Neigung  zum Historismus und Ästhetizismus  aufweist, gerne unterschlagen wird. Das  Bild des Wiederaufstieges , der spirituellen Gewahrwerdung, gleicht in seiner Schau mehr einem utopischen Szenario, einem Science Fiction -haften Bild, als irgendeinem historischen Bezug.
 Überhaupt wäre es falsch,  die Gegenwart nur an ihrer (unbestrittenen) Geistesferne zu  bemessen – denn gerade auch diese  hat ihre geschichtliche Konstante, nämlich durch falsche Religion und ihre gegenwärtige Fortsetzung durch ihre säkularchiliastischen Derivate. Und doch drängt alles zur Entwicklung jenseits des raumzeitlich Immanenten, denn die Unvermeidbarkeit des Prozesses universaler spiritueller  Progression ist auch teilhaft im vermeintlich Profanen aller Gegenwart. Die Verwandlung, von der oben die Rede ist, ist dabei ein Leben, das unserem alltäglichen Leben weit voraus ist, indem es die Bildung zu einem neuem Wesen – und Weltenverständnis  eröffnet, somit ist hier  nicht weniger als die Befähigung und Aufgabe angesprochen , Welt und Person disponabel und erweiterbar zu definieren und -selbst innerhalb der alltäglichen ‘Daseins-Grenze’- eine entsprechende (spirituelle) Seins-Hebung in diesem Bewußtsein erwachsen zu lassen.)
Hierzu auch ein passendes Zitat aus Carlos Castaneda, Neue Gespräche mit Don Juan Matus: ” ‘Der bloße Gedanke, von allem, was ich weiß, losgelöst zu sein, läßt mich schaudern’, sagte ich. ‘Das kann nicht dein Ernst sein! Nicht der Gedanke an das, was dir bevorsteht, sondern die Vorstellung, daß du ein Leben lang das tun mußt, was du immer getan hast, sollte dich schaudern lassen. Denk an den Mann, der Jahr für Jahr Korn säht, bis er zu alt und zu schwach ist, um aufzustehen, und dann herumliegt wie ein alter Hund. Seine Gedanken und Gefühle, das beste in ihm, kreisen ziellos um das einzige, was er immer getan hat, das Kornsäen. Für mich ist das die furchtbarste Verschwendung, die es gibt. Wir sind Menschen, und es ist unser Schicksal, zu lernen (Plato!) und uns in die unvorstellbaren neuen Welten (plotinische Hypostase der Vielheit!) schleudern zu lassen.’ ‘Gibt es wirklich neue Welten für uns?’, fragte ich halb im Scherz. ‘Wir haben noch nichts ausgeschöpft, du Narr’, sagte er gebieterisch. ‘Sehen ist etwas für makellose Menschen. Mäßige deinen Geist, werde ein Krieger, lerne sehen, und dann wirst du die Endlosigkeit der neuen Welten unserer Vision erkennen’ “