Religiösität und Totalität

Fichte sagt: “Die Religion ist nicht bloßes andächtiges Träumen, sagte ich: die Religion ist überhaupt nicht ein für sich bestehendes Geschäft, das man abgesondert von andern Geschäften, etwa in gewissen Tagen und Stunden treiben könnte; sondern sie ist der innere Geist, der alles unser, übrigens seinen Weg ununterbrochen fortsetzendes, Denken und Handeln, durchdringt, belebt, und in sich eintaucht. – Daß das göttliche Leben und Walten wirklich in uns lebe, ist unabtrennlich von der Religion, sagte ich. Doch kommt es dabei, wie es nach dem unter dem dritten Standpunkte gesagten scheinen möchte, keineswegs an, auf die Sphäre, in welcher man handelt. Wen seine Erkenntnis zu den Objekten der höheren Moralität erhebt, dieser wird freilich, falls ihn die Religion ergreift, in dieser Sphäre leben und handeln, weil diese sein eigentümlicher Beruf ist. Wer einen niedern hat, dem wird selbst dies niedre durch die Religion geheiliget; und erhält durch sie, wenn auch nicht das Materiale, dennoch die Form, der höhern Moralität; zu welcher nichts mehr gehört, als daß man ein Geschäft als den Willen Gottes an uns, und in uns, erkenne, und liebe. So jemand in diesem Glauben sein Feld bestellt, oder das unscheinbarste Handgewerbe mit Treue treibt, so ist dieser höher und seliger, als ob jemand, falls dies möglich wäre, ohne diesen Glauben, die Menschheit, auf Jahrtausende hinaus, beglückseligte.”

Diese Worte sagen, es gibt zuletzt kein Außen außerhalb des Religiösen, da das Religiöse eher eine Bezeichnung meint für das Streben oder Tun, was das Sein im Wesen einer Totalität abzubilden gewillt ist. Das moralisch höchste Gute ist hier noch freilich im Widerstreit, und je höher das Bewußtsein, desto amoralischer und areligiöser erscheint die Welt – auch die Massenreligionen sind zuletzt in dem Sinne Signum der Areligiösität, als sie den Gedanken der immanenten spirituellen Durchwirkung durch das Konzept vermeintlich getrennter oder verschiedener Seinsbereiche konterkarieren. Nur ist die Welt nicht Alles (nicht alles Explizierte) – sie ist nur Bild, Aspekt der Sphäre des Einen in einer spezifischen Gebrochenheit und Selbstentfernung. Das Spezifische liegt dabei in der Übersetzung der uns eigenen Physiologie, die wiederum schon Übersetzung zur Übersetzung ist. Dies meint auch, daß die Apriorie der Physiologie viele Formen zugleich für verschiedene Perzeptionen avisieren kann. Tatsächlich gibt es ungenannte, ungeahnte weitere Bilder, die höher (und tiefer) stehen als unsere von hier besehene und bekannte weltliche Warte – und das Bewußtsein verortet sich seinem Stand gemäß in vielen Bildern und Welten. Erkenntnis (-Streben) über das Bild hinaus zum eigentlichen Wesen der Welt und des Selbst, dies heißt demnach Religiösität. Und moralisches Streben meint die Konsequenz aus der Erkenntnis der eigenen Rolle in einem Gesamtbild, das aus den verschiedenen Bildern entstammt, um die Fragmente zur Summe der Verbundenheit zu komplettieren und zu überhöhen.