Diskrepanzen

Wie kommt es zu offensichtlichen, fast ausschließenden Diskrepanzen der subjektiven (geistigen) Lebenswelten, sind sie doch eigentlich der Gattung nach durch ihren intersubjektiven Erlebnisraum sehr nah, in dem ja über gleichartige Wahrnehmung gleichartige Welt und ähnliches Erleben determiniert ist? Müßten die Individuen nicht auch im Geistigen ‘verwandter’ sein?
Eine Annäherung an diese Frage findet sich in der Tatsache, daß das Innen des Einzelnen weit über die Realität der Lebenswelt hinausreicht und die Unterschiedenheit entgrenzt wird durch ganz unbenannte, ferne Ursprünge. Dies heißt anders gesagt: Die Unterschiedlichkeit des Einzelnen innerhalb der gleichen Gattung setzt sich metaphysisch fort und hat viel tiefere Begründungen denn lebensweltliche Kondition und Kausalität. In der Reinkarnationslehre wird dieser Zusammenhang mit der Seelenqualität, dem Stand einer Seelenreife, erklärt – und auch im Christentum finden sich hierzu Erklärungsversuche, die durch Begriffe wie Prädestination oder dem Begriff einer Gnade Gottes angedeutet sind.
Volkmann-Schluck zum Neuplatonismus: “Zum wahren Selbstbesitz gelangt die Seele aber durch die im Lernen vollzogene Aneignung der Wissensgehalte, die ihr zunächst fremd gegenüberstehen, die sie sich aber im Lernvollzug zu eigen macht. “
Und Plotin: “Wenn nun die Seele jenem Logos zu eigen geworden und in eine entsprechende Verfassung gebracht ist, dann holt sie es (das Wissen) hervor und nimmt es zu Handen; denn was sie primär besitzt, das will sie auch kennen lernen, und durch dieses zu Handen nehmen wird sie gleichsam verschieden von ihr selbst, und es diskursiv denkend sieht sie es als ein Anderes; jedoch war sie auch selbst Logos und gleichsam Geist, aber ein Geist, der das andere sieht. Denn sie ist nicht erfüllt, sondern sie hat Mangel gegenüber dem vor ihr; jedoch sieht auch sie in Ruhe, was sie hervorholt. Denn was sie einmal hervorgeholt hat, das holt sie nicht mehr hervor, was sie aber hervorholt, das holt sie aus Mangel zur Überprüfung hervor, um kennen zu lernen, was sie besitzt.”

Die Welt ist ein Ort des Mangels. Sie ist verwirklichte Seelenneigung zum Materiellen. Die Seele, die aus sich schon unterste Hervorbringung (besser: Existenz) des Nous genannt werden kann, hat sich von jenem abgewandt und gibt sich ganz dem Weltlichen dar – somit zutiefst entfremdet ihrer Bestimmung und Herkunft. Da prinzipiell kein Mentor, kein Konzept, keine gesellschaftlich präsente ‘Pädagogik der Umkehr’ vorhanden, bleibt es -man kann fast sagen, jeher – den Seelen anheim, den individuellen Weg der Vergegenwärtigung zu beschreiten. De facto ist – im Bild des Monismus gesprochen – auch lediglich ein Zu-Sich-Kommen des Einen aus seinem Selbst heraus möglich.
Volkmann-Schluck im neuplatonischen Sinne: “Die Wesensbestimmung eines Seienden, das sich selbst in der Vollendung seiner Möglichkeit denkt, erlaubt nun auch eine genauere ontologische Charaktersitik der Seele: Sie ist eine defiziente Form der vollen Gegenwärtigung seiner selbt.” Diese Gegenwärtigung ist nur im Durchgang durch die Dinge zu ihrem Ursprung zurück erreichbar. Bei aller Weltenfülle, bei aller Explikation und Verstrickung findet sich im Lebensweltlichen die ganze Breite der Seelenqualitäten wieder, die obwohl der selben Gattung zugeordnet, aufgrund ihrer nicht biologischen Determinante auf zutiefst Trennendes apriorischer – geistiger – Abkunft verweist.