Appolinisch, dionysisch

C.G. Jung: “Das Appolinische ist, wie Nietzsche es auffasst, das auf sich selbst Zurückgezogen sein, die Introversion. Umgekehrt ist das Dionysische bei Nietzsche das entfesselte Hinausströmen der Libido in die Dinge.”
Appolinisch: Die Dinge und im Zuge alle Lebensfaktoren werden zum Symbol und Träger des erahnten und erfühlten höheren Gehalts, dies eben, indem man die Dinge aus sich formt, indem man von ihnen das auschließt, was sie bindet und verfestigt und trennt, indem man – fast paradoxerweise gesagt – das ausschließt, was sie verdinglicht und was ihre Transzendenz hindert.
Das Dionysische hat nun aber gar keine andere Stoßrichtung. Die ‘dionysische Raserei’  ist  nur ein äußerer, transitorischer Aspekt, eine Form des Zugangs zu einer nun instantan-transzendenten Erfahrung unter Verlust jedes Körperinteresses- der Ausführende weiß dann nicht einmal um die physiologischen Aspekte der Entrückung, was deren ganze Unwichtigkeit und Äußerlichkeit verdeutlicht, was somit die Anschauung über den Begriff des Dionysischen als ein für sich selbst seinshaft Gültiges auf das stärkste relativiert. Bleibt man seinem äußerem Aspekt als einem mitunter spektakulären Habitus (hierzu gehört auch das ‘erhobene’, aber noch raumzeitlich ausgerichtete Seelische) jedoch als der Hauptsache verhaftet, muß man von einer Art Ästhetizismus sprechen, der  – was seinem Wesen gemäß ist – symbolhaft, veräußernd und hemmend wirken muß. 
Während das Apollinische  also  Evolution und schritthafte Integration meint,  ist das Dionysische unintegrativ, abrupt und  überwölbend – und doch fallen beide Wegrichtungen im Ziel zusammen. Auf die neuplatonische Hypostasenlehre besehen geht es um den Eintritt in die Welt der Seele und der geistigen Räume und den Aufstieg zum Allerhöchsten (Sein).
Der dionysische Habitus ist dabei unethisch in dem Sinne, daß er (zumal in der äußeren Welt) die Seelenqualität mit sich selbst in Widerstreit und Aufruhr bringt (beispielsweise durch Opfertum und Aggression), der integrierende Zustand hingegen formt allmählich den ethischen Menschen, um aus ihm einen latent Erhobenen zu machen und ihm zumindest im Bewußtsein der Möglichkeit der Erhebung ein konsequent anderes- zum Einen gerichtetes- Leben zu erwirken.
Tatsächlich sagt Nietzsche, in seltenem ‘Bekennertum’ etwas über den eigentlichen (dionysischen) Telos: “Jetzt bei dem Evangelium der Weltharmonie fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sonder Eins, als ob der Schleier der Maya zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herum flattere.” (!)
Nietzsches zeitweiliger Weggefährte Erwin Rohde zeigt in seinen Untersuchungen genau an diesem Punkt den Ausgang in den Platonismus, den Spiritualismus, den Immaterialismus und dem ‘Metaphysismus’ auf, dem sich gerade Nietzsche – eigentlich im Widerspruch zu seinem eigenen Satz stehend – so vehement verschlossen hat:
“Entwertung des alltäglichen Lebens, Abwendung von diesem Leben wird die Folge eines so gesteigerten Spiritualismus sein.”