Jim Holt: “Für Edward Frenkel sind mathematische Strukturen ‘Objekte der Realität’; sie sind genauso real wie irgendetwas anderes in der physischen oder mentalen Welt. Überdies sind sie keine Produkte des menschlichen Geistes, sondern existieren zeitlos in einem eigenen platonischen Reich und warten darauf, von Mathematikern entdeckt zu werden.
Die Überzegung, daß Mathematik eine Realität besitzt, die über den menschlichen Geist hinausgeht, ist unter ihren Praktizierenden nicht ungewöhnlich; das gilt besonders für die Großen unter ihnen, wie Frenkel und Langlands, Sir Roger Penrose und Kurt Gödel. Sie erwächst aus der Art und Weise, wie sich unerwartet seltsame Muster und Ähnlichkeiten herausschälen und auf etwas Verborgenes und Geheimnisvolles hindeuten. Wer hat diese Muster dort hingestellt? Es sieht wirklich nicht so aus, als seien wir es gewesen.
Das Problem mit der platonischen Sichtweise der Mathematik – eines, das Frenkel in geheimnistuerischer Manier niemals wirklich als Problem erkennt – ist, daß sie mathematische Erkenntnisse zu einem Mirakel macht. Wenn die Objekte der Mathematik getrennt von uns in einem platonischen Himmel existieren, der die physische Welt von Raum und Zeit übersteigt, wie kommt der menschliche Geist dann in Kontakt mit ihnen und erfährt etwas über ihre Eigenschaften und Beziehungen? Verfügen Mathematiker über extrasensorische Wahrnehmung? Das Problem mit dem Platonismus sei, so der Philosoph Hilary Putnam, ‘daß er rundheraus inkompatibel mit der einfachen Tatsache scheint, daß wir mit unseren Gehirnen denken und nicht mit unsterblichen Seelen.’ “
Hierzu soll gesagt werden: Der Mathematiker verfügt durchaus nicht in Besonderem über eine Extrasensorik, aber er zwingt oder imaginiert durch die Arbeit mit der Zahl als grundlegende Bestimmung zum Dasein ihrer inneren logischen Struktur nach die zuvorderst unbekannte (und transzendierende!) Gesetzmäßigkeit in den Erkenntnisraum unserer Hiesigkeit, unserer Existenz. (In diesem Kontext sprach Sloterdijk einmal passend von einer ‘Einwanderung von oben’). Somit auch der Mathematiker und Philosoph Poincare: “Die Rolle der Arbeit des Unbewußten’ (also des an das Eidetische Zurückgebundenen!) “bei mathematischen Entdeckungen scheint mir unbestreitbar.” )Auch der Künstler geht (idealiter) derart vor, daß er seinem Ingenium nach einer höheren Grundlegung Platz gibt und auf alle intentionale Orientierung oder Planung verzichtet: Denn so offenbart auch ihm sich Unerwartetes, das eben oberhalb und höherrangig der bekannten Planbarkeit ins Diesseits gleichsam ‘gezwungen’ werden kann.
Für dies Prinzip der Übersteigung des Erfahrbaren in der Mathematik sei zum Beispiel Einstein erwähnt, dessen Berechnungen das Wesen von Raum und Zeit gegen alle aposteriorische Rationalität proklamierte, wozu dann die Bestätigung später tatsächlich empirisch erbracht wurde. Nicht also die platonische Sichtweise macht die mathematischen Erkenntnisse zum Mirakel, vielmehr machen die mathematischen Erkenntnise die Welt zum Mirakel, weil sie unabdingbar die Welt als höhergestaltig darstellen, indem sie die ihr eigene Meta-Natur aus nur ausreichend konsequenter logischer Herleitung im Sinne des Wortes erscheinen lassen und diese Natur als unumstößlich darstellen oder beweisen. Als anderes Beispiel seien quantenphysikalische Erkenntnisse erwähnt: Sie gerade können die illusionäre Verknüpfung von Subjekt und Objekt aufzeigen, die innere Verbindung von natura naturans und natura naturata , also der Tatsache der Schaffung der als so real besehenen Welt durch Mitwirkung aus dem Subjekt durch Perzeption und Gedanklichem, was einem Nachweis nicht zuletzt der platonischen Lehre von der Weltseele, durch die alles lebt und weben soll, gleichkommen kann. In diesem Sinne erübrigt sich auch die fälschlicherweise gestellte Frage, wie der Mathematiker eine Verbindung zum Höheren herstellt, denn diese Frage negiert völlig den Einheitsgedanken samt seiner sich selber bedingenden Durchwirkungen zwischen den hypostasierten Bereichen einer (monistischen) Existenz.