Aristotelischer naiver Realismus

Zum Begriff eines aristotelischen naiven Realismus nach Jochen Kirchoff:

“Aristoteles kann, was seine naturphilosophischen Grundüberzeugungen betrifft, als der klassische Philosoph des naiven Realismus angesehen werden: Er identifiziert die sinnliche Erfahrungswelt mit der Wirklichkeit und konstruiert auf dieser Grundlage in induktiver Weise, also stets vom unmittelbar wahrgenommenen einzelnen ausgehend, in Richtung auf zunehmende Allgemeinheit das Ganze…

Das Mühen um sinnliche Evidenz ohne Rückbezug auf kosmische Ursächlichkeit nicht-sinnlicher Natur ist ein zutiefst mittelalterlich-scholastisches Prinzip.

Das geozentrische Bewußtsein zeigt sich etwa in dem Umstand, daß die Überzeugung von der gleichsam absoluten Realität der Sinneswelt… zur Doktrin weiter Kreise wurde…daran hat auch die revolutionäre Wandlung der modernen Physik seit Einstein, Planck, Bohr und Heisenberg nichts grundsätzlich geändert.

So hat die neuzeitliche Physik den wichtigsten Gedanken des heliozentrischen Weltbildes zwar übernommen…ihn jedoch zunehmend mehr mit aristotelischen Elementen vermischt, was dazu geführt hat, daß der Großteil der Bevölkerung dieses Gestirns nach wie vor geozentrisch denkt und empfindet.”

Und für Kepler wie Galilei: “In deren Sichtweise wird die abstrakte Struktur der Mathematik zum Wesen der Natur erklärt, zum objektiven Geist, welcher als bestimmendes Prinzip der bunten Fülle der Erscheinungen zugrunde liegt…das mathematisch formulierte Naturgesetz wurde zum Abbild der platonischen Ideen. Und in diesem Sinne sind Heisenberg und Weizsäcker genauso als Platoniker zu bezeichenen wie Galilei und Kepler.”

Und daher hat lange vor Descartes oder Newton die Patristik und in Folge des Aufstieges der poltischen Kirchenmacht die Scholastik dem Sein das Transzendente entzogen, einen Widerspruch zwischen Materie und Geist etabliert und dafür das Transzendente an eine hypothetische, entrückte Himmelsstelle verbannt (im übrigen ist in dieser Hinsicht einiges einer fehlerhaften Kanonisierung des Neuen Testamentes geschuldet), indem man eine anthropozentrierte – weil die Anforderungen und Erwartungen des Menschen seiner Zeit spiegelnde – Vorstellung von Gott dort hineinzusetzen beliebte. Hegel spielt eben entprechend genau darauf an, wenn er sagt, das Christentum habe die Natur zum Leichnam erklärt.

Nebenbemerkung: Und hier findet sich die eigentliche (ontologische) Schuld der Kirche; und daß die Kirche diejenigen, die sich gegen diese antimetaphysische Agenda wehrten, auf den Scheiterhaufen brachte, ist ein äußerlich hervortretender Schuldaspekt, der nicht in eine typische Reihe von Menschheitsverfehlungen einzureihen ist, sondern vielmehr folgerichtig in einer Art singulär-evozierten weltanschaulichen Schuldkausalität steht.