Protestantismus, Wahrheitsbezug

Karlheinz Weißmann zitiert den lutherischen Theologen Friedrich Gogarten: ” ‘Es soll behauptet werden, daß diese Befreiung, die der Protestantismus der katholischen Kirche und dem Mittelalter gegenüber vollzogen hat, nicht um einer schlechthinnigen Freiheit willen vollzogen wurde, als sei die Freiheit das erste und letzte Wort, das zur Welt zu sprechen wäre. Es soll gesagt werden, daß diese Befreiung erfolgte um einer anderen Bindung willen als die katholisch – mittelalterliche war.’ Gogarten meinte, daß die Bindung, die Luther wollte, die ‘Bindung an die Wirklichkeit’ war, und daß es zur Tragik des Prostestantismus gehöre, diese Bindung nicht verwirklicht zu haben, daß er vielmehr ‘der Welt diese Bindung schuldig geblieben ist und die Welt in das Chaos ihrer Schrankenlosigkeit hat gleiten lassen’.”
Zumeist besteht eine große Unklarheit oder wenigstens nur eine vage und nicht weiter ausgeführte Definition oder Vorstellung von dem Begriff der Freiheit. Die (von konservativer Seite) gerne als überzogen dargestellte Freiheit der “Moral und Sitten” oder allgemeiner der Person oder überhaupt der gesellschaftlichen Verhältnisse sollte ja hier gar nicht angesprochen sein. Es muß viel eher von der (inneren und äußeren) Freiheit zum rechten Glauben gesprochen werden -von der Freiheit zur Erfassung einer göttlichen Wirklichkeit- dies aber setzt die Befreiung des Menschen aus dem Irrtum und seinem Unwissen voraus (was selbstredend wiederum einige soziale Sprengkraft birgt), damit er überhaupt zur Kenntnis dieser Wahrheit gelangen kann, und diese Freiheit meint also zugleich eine Bindung, aber eben eine Bindung, die dem Wesen des Geistes gemäß, das selber Freiheit ist, als seiner Bestimmung gerecht wird. Der Protestantismus kennt -wie jeder Theismus- diesen Freiheitsgedanken nicht – eine Bindung durch solch eine ontologische Verwobenheit von Individuellem und Transzendentem ist ihm ganz unbekannt. (Dies eben scheidet z.B die Reformatoren Luther und Müntzer, Müntzer war im Grunde Mystiker und stand in der Tradition Thaulers (sprich Meister Eckharts), daher proklamierte er die (univoke) Teilhabe des Einzelnen am (göttlichen) Geist und bekämpfte die durch religiöse wie weltliche Autoritäten beförderte Entfremdung des Menschen von diesem seinem Wesenskern. Insofern ist die geforderte ‘Bindung an die Wirklichkeit’ aus dem Protestantismus heraus problematisch. Da Gogarten zudem als Vertreter der Dialektischen Theologie den absoluten Gegensatz von Gott und Mensch herausstellt, kann er ja die ontische Verbindung der Seinsbereiche und so den Vollzug des Geistigen im Individuum erst recht gar nicht ergreifen oder fassen (wollen). Geht es also um die Betrachtung der Glaubenswirklichkeit, handelt es sich im Protestantismus (geschichtlich gesehen) um eine weitere-epochale- Verschleierung des Transzendenten, bleibt dessen Wesen weiterhin die Möglichkeit versagt, das Vage und Ferne des Katholizismus zu einem erlebbaren und realen Vollzug zu entfalten. Insofern ist hier kein geistiges Wachstum angesprochen, und Bindung heißt hier nur Devotion. Weil der Kirchenkonservative (ob katholisch oder evangelisch) seines eigenen geistigen Wesens nicht bekannt wird, kann er nur von äußeren Zeichen lesen, Innerlichkeit ist ihm fremd. Auch wenn er sie proklamiert, wenn er von ihr redet, weiß er zugleich nie, was er damit eigentlich meint, kann er diese nie mit wirklicher Bedeutung (mit Wirklichkeit) füllen. Daher auch seine Distanz zum Begriff ‘Spiritualität’: Ihm ist der vitale geistige Vollzug suspekt, weil er schließlich nur einen Korpus zur Selbt-Konsolidierung wünscht, eine Statik, deren Gehalt eben in ihrer Entrückung zudem keine Fragen nach ihrem Wesen und ihrer Legitimation aufkommen lassen muß. Für dieses Vorhaben reicht also eine Phrase, eine in ihrer Äußerlichkeit gepflegte prinzipielle Leerformel. Hegel sagt, die Natur soll im Christentum kein Interesse haben (dies aber gilt für jeden Theismus). Meine Zufügung: Das Geistige soll es eben auch nicht.

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