Freud über Marx

Im Karl Marx-Jahr ist man durchaus bemüht, dies und jenes noch Gültige seiner Lehren herauszukehren, dabei  stellen einige ganz auf das Ökonomische ab, andere gar auf die Richtigkeit seiner humanistischen Proklamationen. Nun ließe  sich hier bereits einwenden, daß Marx schon von einigen seiner Zeitgenossen als überholt und wiederlegt tituliert wurde – hierauf sei aber nicht näher eingegangen.  Von Interesse ist vielmehr seine (retrospektive) weltgeschichtliche Wirksamkeit. Daß Marx den unbedingten und radikalen Umbruch forderte, daß er stets die Revolution, den (Welt-)Krieg proklamierte, ja herbeisehnte, läßt wenige Jahrzehnte  nach ihm  die Usurpation der russischen Gesellschaft durch Lenin sowie Stalins Krieg und den “Krieg” der Komintern (Weltrevolution als Krieg und Terror globalen Ausmaßes) in viel klarerem Licht erscheinen.
Daß solche Weltanschauungskriege (hier im kausalen Nexus mit dem Nationalsozialismus) die radikalsten und opferreichesten Kriege sind, ist hinlänglich bekannt, und  Marx` (rabbinischer) Hang zu einer Eschatologie, die den Menschen einem letzten höheren Zweck (der Erlösung) zuführen muß, beläßt ihn bei aller Ablehnung des Religiösen im Grunde inmitten (s)einer metaphysischen Tradition, die weltanschaulich entsprechend -man kann sagen: apokalyptisch aufgeladen ist. Der  Marxismus als eine Teleologie im Nachgang des deutschen Idealismus verkümmert dabei aber das Ideale und die ideale Verortung, indem er den  letzten Zweck (und die erste Disposition) ganz ins Diesseits einer anthropozentrieren Welt-Definition verlegt, kann somit an keiner Stelle -da der Ausgriff zu den tatsächlichen Seinsbestimmungen vakant bleibt-nur den Torso eines Idealismus  bilden, der  in  seiner Reduktion und Begrenzung  (zudem auf einem heute überholten Naturverständnis dieser Zeit) auch den Menschen selbst nur  in grober Vereinfachung seines Wesens beschreibt. Diesen Zusammenhang  hat Sigmund Freud (der anders als Marx konsequent rationalistisch argumentiert) mit treffender Genauigkeit zu Ausdruck gebracht:
“In der Marxschen Theorie haben mich Sätze befremdet wie, daß die Entwicklung der Gesellschaftsformen ein naturgeschichtlicher Prozeß sei, oder daß die Wandlungen in der sozialen Schichtung auf dem Weg eines dialektischen Prozesses auseinander hervorgehen. Ich bin gar nicht sicher, daß ich diese Behauptungen richtig verstehe, sie klingen auch nicht ,,materialistisch“, sondern eher wie ein Niederschlag jener dunklen Hegelschen Philosophie, durch deren Schule auch Marx gegangen ist. Ich weiß nicht, wie ich von meiner Laienmeinung frei werden kann, die gewohnt ist, die Klassenbildung in der Gesellschaft auf die Kämpfe zurückzuführen, die sich seit dem Beginn der Geschichte zwischen den um ein Geringes verschiedenen Menschenhorden abspielten. Die sozialen Unterschiede, meinte ich, waren ursprünglich Stammes- oder Rassenunterschiede.
Die Stärke des Marxismus liegt offenbar nicht in seiner Auffassung der Geschichte und der darauf begründeten Vorhersage der Zukunft, sondern in dem scharfsinnigen Nachweis des zwingenden Einflusses, den die ökonomischen Verhältnisse der Menschen auf ihre intellektuellen, ethischen und künstlerischen Einstellungen haben. Eine Reihe von Zusammenhängen und Abhängigkeiten wurden damit aufgedeckt, die bis dahin fast völlig verkannt worden waren. Aber man kann nicht annehmen, daß die ökonomischen Motive die einzigen sind, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. Schon die unzweifelhafte Tatsache, daß verschiedene Personen, Rassen, Völker unter den nämlichen Wirtschaftsbedingungen sich verschieden benehmen, schließt die Alleinherrschaft der ökonomischen Momente aus. Man versteht überhaupt nicht, wie man psychologische Faktoren übergehen kann, wo es sich um die Reaktionen lebender Menschenwesen handelt.”