Nietzsche, Willen gegen das Leben

Nietzsche (Genealogie der Moral): “Gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krankmachte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zum Nihilismus?
Nun, der Buddhismus ist nicht weit vom alten Griechentum, und der Idealismus oder der idealistische Monismus –  von den Orphiten an – die ihn wiederum aus ältesten Mysterienkulten übernahmen – stammen aus dem gleichen Keim: “Sohn der Erde und des gestirnten Himmels bin ich; doch meine Herkunft ist himmlischen Ursprungs.”, so sprach Orpheus.  Wir begegnen dieser Ansicht  gerade auch bei Empedokles 500 Jahre vor Christus, also zur gleichen Zeit wie Buddha.  Empedokles spricht von der weltlichen Existenzweise als einer  Verbannung. “Ich weinte und jammerte, wie ich den ungewohnten Ort erblickte.” Umgekehrt dann,   im Aufstieg der Seele: “Sie sind dann der Unsterblichen Herdgenossen, sitzen am selben Tische mit ihnen, menschlichem Jammer entrückt, in unerschöpflicher Kraft.”
Was nun soll hiergegen Nietzsches Vitalitätsprinzip, sein Wille zur Macht, im Verhältnis ausrichten können? Ein Wille zur Entfaltung der Physiologie -und einer ihr entspringenden Psychologie- zuletzt eine  relative und höchst vergängliche Disposition! Ist hier- von der Grabstätte aller verflossener Generationen und all ihres verflossenen Willens und Strebens und Kräftemessens aus bewertet nicht viel eher ein wirklicher Nihilsmus, ein einziges sinnentleertes und zuletzt ungerichtetes, ganz und gar machtloses  Umsonst?
Und was meint denn im idealistischen Kontext Mitleid?  Es ist schlicht die Selbstbefassung des Einen, das  in seiner Fragmentierung – im Sinne des Wortes -Anteil nimmt an seinen Fragmenten,  und so das tief verbindende Moment hinter  der Fragmentiertheit offenbar werden läßt -fühlbar werden läßt, diese Nicht-Einheit zuletzt als Täuschung in der Affektion der Seele erfahrbar macht.   Empedokles sagt in seinem Plädoyer für die Enthaltung von fleischlicher Nahrung folgenden Satz, der  besonders anschaulich die innere Verwandschaft aller  physischen Inkorporation aufzeigt: ” Fühlt ihr nicht, daß ihr einander zerfleischt im finsteren Wahne? Da schlachtet der Vater in arger Verblendung den lieben Sohn, der seine Gestalt gewandelt hat, und spricht dabei noch ein Gebet! …So ergreift der Sohn den Vater und die Tochter die Mutter, rauben ihnen das Leben und verschlingen das Fleisch der Verwandten.“  Zur gleichen Zeit formuliert für den Osten auch Mahavirah die ganz  ähnliche Einsicht. “Zweifle nicht: Du bist ja das Geschöpf, von dem du meinst, es dürfe geschlagen, bemeistert, getötet werden. Darum sein kein Töter und kein Helfer beim Töten.”
Abstand zu erringen von der animalischen Disposition, vom Instinkt also und vom puren Affekt und den Bedingungen einer  relativen Physis,  meint somit  einen tatsächlichen Akt der Kraft, ein über sich selber-über sein hiesiges verhaftetes Selbstsein – Hinausgehen. Der Drang, sich dieser Art emporzuschwingen, ist nicht ‘Krankheit’, wie Nietzsche meint – ist nicht ‘Stehenbleiben’, sondern ist vielmehr der notwendige  Aufbruch des strebenden Geistes  (also des Seins selber) aus seiner raumzeitlichen Reduktion und Bedrängtheit, -oder wie die Orphiten sagen-das Aufstehen der Seele aus ihrem Grab, zurück zur eigentlichen  Abkunft ihrer Selbst. Hier alleine wirkt das Prinzip der Macht, das alleine in seiner weltlichen Erahnung, in seinem Durchscheinen zum Hier, schon zur tiefen Erschütterung Nietzsches genügte. Der von ihm so bezeichnete ‘Wille gegen das Leben’-ist in Wahrheit ein Wille, der sich über das -reduzierte- Sein selbst und dessen einfachen Naturtrieb weit hinfortsetzen will und hinauswächst -anders gesagt: Sein Wille gegen das Leben ist in Wahrheit der Wille zur Macht, der den Begriff von ‘Leben’ und ‘Macht’ viel höher fühlt und  fasst und daher vielmehr die hiesige Existenz als  schwaches Leben, ja als kränkelndes Propädeutikum zum Eigentlichen deklariert.