Ritualismus

“Die ihrer Erfahrungskomponente beraubte organisierte Religion hat die Verbindung zu ihrer tiefen spirituellen Quelle weitgehend verloren und ist infolgedessen leer, schal und zunehmend bedeutunglos für unser Leben geworden. In vielen Fällen sind an die Stelle lebendiger und gelebter Spiritualität auf der Grundlage profunder persönlicher Erfahrung Dogmatismus, Ritualismus und Moralismus getreten. Die aggressivsten Parteigänger der konventiellen Religion fordern den Buchstabenglauben an die exoterischen Versionen spiritueller Schriften, die einem gebildeten modernen Menschen kindisch und eklatant irrational vorkommen.”(Stansilav Grof)
Von Schopenhauer ließe sich eine (für seine Verhältnisse wohlwollende) “Psychologie des Ritualismus” anfügen:
Die solideste Wohltat, welche eine aufrichtig geglaubte Religion gewährt, ist die, daß sie die Leere und Schaalheit des Lebens auf eine vortreffliche Weise ausfüllt, in dem sie eine ganze zweite unsichtbare Welt neben der wirklichen schenkt und einen beständigen interessanten, hoffnungsvollen Umgang mit den Wesen jener zweiten Welt gewährt. So beschäftigen den frommen Hindu, den Griechen, den Katholiken früherer Zeiten immerfort seine Götter und Heilige, denen Opfer, Gebete, Tempelverzierungen, Gelübde und deren Lösung, Messen Sakramente, Begrüßung und Schmückung der Bilder, Wallfahrten u.s.w. zu leisten waren: jedes Ereignis des Lebens wurde nun als Gegenwirkung jener Wesen angesehen, und so nahm der Umgang mit ihnen fast die halbe Zeit des Lebens ein, war viel interessanter als der mit Menschen, und verzierte so das Leben durch eine poetische Täuschung, die ihm fortdauernden Reiz gab und stehts die Hoffnung unterhielt. Und Täuschung ist zuletzt alles Glück. – Das alles kann freilich nur eine Religion leisten, die ernstlich geglaubt wird und reich an geträumten Göttern und Heiligen ist und viele Ceremonien fordert: nicht kann es ein platter, abstrakter, streng monotheistischer und vernünftiger Protestantismus, daher Goethe vollkommen Recht hat mit dem, was er in seinem Leben über die Sakramente der Katholiken und Protestanten sagt. Unsre Zeit, wo die Religion fast ganz erstorben ist, entbehrt jener zauberischen Unterhaltung. Doch ist die Befreiung von Irrtümern, selbst wenn sie beglückten, immer Gewinn.