Ethisches Bewußtsein, Nietzsche, Platon, Animismus

Gunzelin Schmid Noerr: “Sokrates und Platon stellen, so Nietzsche, einen Einschnitt in der griechischen und der abendländischen Entwicklung der Kultur dar, insofern sie das tragische Bewußtsein in Richtung auf ein ethisches Bewußtsein überwinden. Sie stellen den Menschen die Möglichkeit vor Augen, sich durch Teilhabe an einem idealen, ewigen Sein über die unverfügbaren Schicksale, über die Wechselfälle von Unglück und Glück zu erheben. So werden mit Hilfe der Ethik die Tugendbegriffe von ihren gesellschaftlichen Funktionen abgelöst und zu allgemeinen menschlichen Qualitäten umgedeutet.”
Zum “tragischen Bewußtsein” einst Edouard Schure: “Das war die Rolle der Mysterien gegenüber der Tragödie; das göttliche Drama der Seele, welches das irdische Drama des Menschen vervollständigte, erklärte.”
Nietzsche aber läßt nur dem menschlichen Aufzug die Berechtigung und fokussiert nicht die möglichen höheren Dispositionen dessen Genese, negiert sie sogar, insofern könnte er auch nicht den Blickwinkel einnehmen, wonach Platons Philosophie (der Ethik) im Grunde nicht gedanklich-rationale Zweckbestimmung einer gewonnenen Einsicht ausdrückt, sondern nicht weniger als die Telos-Beschreibung einer initiatischen Mystagogik meint. Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen: Mit dem ganzen Platonismus ist es so, daß er in der Verursachung nicht deduktiv, sondern empirisch aufgefasst werden sollte, als Kolportage einer urreligiösen Erfahrung, somit initiatischer Natur ist. Man ist ja in der Umdeutung des Platonismus sogar so weit gegangen, ihn als Propädeutik zum Christentum zu verkennen.(Unter der Betrachtung der Moral wäre dies ganz im Sinne der nietzscheanischen These.) Dabei führt der Platonismus gerade nicht zu einem theistischen Weltverständnis, der Demiurgos bei Platon ist nur als didaktischer Zwischenbegriff von Interesse. Denn der Monismus ist der einfachen Seele unverständig und muß ihr -hierauf wurde oft genug hingewiesen – als eine Art Theismus verständig gemacht werden. Und das entscheidende hierbei: Der Monismus meint die Allumfassung, die ihrem Wesen nach gut ist.
Das ethische Bewußtsein bei Platon meint nur im Sekundären die Schaffung eines Reglements zur gesellschaftlichen Funktionalität mit einer in das Numinose gedachten Rechtfertigung (um eine zukünftige Läuterung), denn in erster Linie handelt es sich hier schlicht um den Auftrag zur Rückkehr zu einem mystisch erschließbaren (Ur-)Bestand, der auch zugleich der Generalschlüssel zur Behandlung der Problematik der conditio humana ist, indem er nämlich in seinen Konsequenzen für das Dasein die Lösungen für das tragisch-menschliche (als das gefallene) Wesen bereitstellt. Durch Platon erfährt das Ethische hierdurch eine vom Verlust bedrohte Rückbindung an ihr Urwesen, das schließlich schon bei Phytagoras angelegt war. Geht man noch weiter zurück in der Zeit, also vor die frühesten Hochkulturen zu den primitiven, schamanischen Gesellschaften, beobachtet man dort eine fast unübersetzte monistisch-panpsychistische Verortung als tragende gedankliche Übereinstimmung für das Gemeinwesen, die sich in einer Nähe zu Egalitarismus, Gemeinschaftssinn und All-Verbundenheit (mit der Natur) ausdrückt(man denke hierbei etwa an Rousseaus Naturzustand). Diese Verortung basiert auf schamanisch induzierbarem Wissen (von der All-Einheit), das eben auch dem Platonismus an der Wiege stand. Ob es diese Gesellschaften in dieser Ausformung tatsächlich je gegeben hat, ist zwar strittig, einiges spricht heute aber eher dafür. Zwei Merkmale sind ihr eigen: Engste (soziale) Verwandtschaftsverhältnisse und vor allem eben die Nähe zu einer als Allumfassung gedachten Numinosität.
Im krassen Kontrast die Moderne: Fehlt die Verinnerlichung einer Weltsicht der metaphysischen All-Beseeltheit und All-Verbundeheit, gereicht jeder Egalitarismus -das zeigt die gesamte Menschheitsgeschichte- nur zur niederdrückendsten Dystopie. Was nun die profanisierte, aus dem Naturzustand gefallene Verfasstheit der Neuzeit betrifft: Auf die ihr eigene, rationalisierte Weise in jene ganz ursächliche -man kann sagen: verdrängte- Denkart finden zu können, auf individuierte, emanzipierte und von allem Aberglauben befreite Art zu einer neuen Relation mit jener Numinosität zu gelangen, die ja nur scheinbar so weit entfernt im Vergangenen residiert und tatsächlich nur so entfernt ist, wie wir uns von ihr entfernt haben, diese Entwicklungsoption beschreibt den eigentlichen Fortschritt der modernen zur primitiven Gesellschaft.