Wert der Inkarnation

Stephan Schlensog: “Gerade von westlicher Seite wurde und wird die im Reinkarnationsglauben begründete Relativierung von Normen und Werten häufig kritisiert. Daß die oberen Kasten damit auch ihre sozialen Privilegien zementiert und auf Kosten der unteren Schichten, vor allem der Kastenlosen, ausgelebt haben, steht außer Zweifel. Sozialreformen und politische Veränderung werden sicher nicht dadurch befördert, wenn die Unterdrückten religiös zu Toleranz und Gleichmut angehalten und auf eine bessere nächste Existenz vertröstet werden, wenn dem Leben des einzelnen kein absoluter, sondern eben nur ein relativer Wert beigemessen wird, da das Ziel alles Irdischen nicht in seiner Veränderung, sondern in seiner Überwindung besteht. Politische Reformer der Moderne wurden denn auch erst durch die Konfrontation mit den Kolonialmächten auf den Plan gerufen und hatten, wie wir sahen, erheblich mit dem Widerstand des religiös-orthodoxen Establishments zu kämpfen.”

Eigentliche Veränderung aber ist ja eben erst in der Überwindung der Hiesigkeit als solcher. Veränderung in diesem Sinne wird geradezu im seinsbegründenden Sinne gefordert, und – obwohl unabhängig von äußeren Umständen- ändert diese (zum Numinosen gerichtete) Entwicklung selbst die Umstände der Hiesigkeit.
Wie aber im Isavasya-Upanisad gesagt:  ‘Der atman ist das gemeinsame Bewußtsein aller Wesen. Der atman ist derselbe in dem König und dem Bauern.’
Somit: Atman -als das Höchste und Heiligste – ist in Allem zumindest potentiell als die gleiche feinstoffliche Essenz vorhanden, die erst der Art ihrer (sich mindernden) Entsprechung nach in die Form treibt. So muß eben jeder seiner Art und seinem Stand gemäß ein Sich-Verhalten begründen zu dem, was nach dem Wesen des atman im transzendierenden Sinne gefordert ist. Was die Inkarnation erst zum Wert erhebt ist das Verhalten (nach Außen) sowie das innere Bezug-Nehmen eben von der ureigenen Warte der Inkarnation ausgehend nun im Angesicht zum geistigen höchsten Prinzip. Äußerlicher Stand und Status stehen hierzu nicht in Beziehung. Anders als etwa im Pietismus ist die äußere Form nicht Ausweis göttlicher Gnade. Diese wird nun vielmehr im Innen entfacht durch das eigene Selbst allein, das sich verhält zum wahren Seelensein.
(Von Nutzen können Privilegien tatsächlich aber dann sein, wenn sie Freiräume erschließen zur Entwicklung des Selbst. Global besehen: Die Gegenwart bietet eine nie vorhandene Möglichkeit zu solcher Betätigung.)