Mythische Substanz

Stephan Schlensog über den Hinduismus: “Einheit der Vielfalt, Vielfalt der Einheit: indische Götter können seit jeher viele Formen, Namen oder Körper haben, jeder göttliche Aspekt kann sich verschieden manifestieren – als Eigenschaft, in Substanzen, Objekten, Zahlen, Farben, Klängen, Zeitperioden, Versmaßen etc., verehrt wird nicht der jeweilige Gott als Person oder Individuum, sondern als ‘mythische Substanz’, die sich in verschiedenen Graden und auf verschiedene Weisen zeigen kann. So finden sich schon früh Bestrebungen, das Eine hinter der Vielfalt der Erscheinungen zu suchen, während es für Hindus selbstverständlich ist, daß sich dies Eine auf verschiedene Weise manifestiert, auf verschiedene Weisen zugänglich ist. Niemand hat Zugriff auf das Ganze, keine Glaubensrichtung und keine Gottesverehrung kann für sich in Anspruch nehmen, allumfassend, allein richtig und damit exklusiv gültig zu sein.”

Und Erik Hornung über die ägyptische Götterwelt:
“Der Einblick in ägyptische Ontologie hat gezeigt, daß eine absolute Einheit und Transzendenz Gottes, ja jegliche Absolutheit Gottes, der ägyptischen Auffassung vom Sein zuwiderläuft; nur ein Gott, der nicht ist, kann absolute Eigenschaften haben. Die Überlegungen zum ägyptischen Denken legen nahe, daß eine ausschließliche und ausschließende Einheit Gottes für den Ägypter im vollsten Wortsinn undenkbar ist, weil er in komplementären Aussagen denkt. Darüber hinaus tauchte die Möglichkeit auf, daß ein Monotheismus für ägyptisches Denken logisch ausgeschlossen war und daher, trotz aller Ansätze, nicht verwirklicht worden ist.”

Es gibt demnach einen bereits in frühester Zeit eingenommenen Bewußtseinsstand, der den Nachvollzug hoher transzendenter Erfahrung beschreibt, die nämlich die Übersteigung der personalen Götter, die Herabstufung der sogenannten Höchsten Entität(en) nur zum Platzhalter und Bild beinhaltet. Diesen Erkenntnis- Schritt hat die levantinische Vorstellung nie vollzogen, mit allen (eso- und exoterischen) fatalen, hemmenden und mindernden Konsequenzen, die ihre Verkürzungen in Dogmatik bei gleichzeitigem Exzeptionalismus mit anmaßend personalem Gottesbezug bis heute (oder gerade heute) nach sich ziehen.