Upanishad, Aneignung

Stephan Schlensog über den Upanishad: “Wenn einer nichts anderes sieht, nichts anderes hört, nichts anderes erkennt, das ist Fülle. Aber wenn einer etwas anderes sieht… hört…erkennt, das ist Wenigkeit. Fülle ist Unsterbliches, Wenigkeit ist Sterbliches…
Die Fülle ist unten, oben, im Westen, Osten, Süden, Norden; die Fülle ist die ganze Welt…
Das Selbst ist unten, oben, im Westen, Osten, Süden, Norden; das Selbst ist die ganze Welt…
Wer so sieht, so bedenkt, so erkennt, der vergnügt sich mit dem Selbst, spielt mit dem Selbst, begattet sich mit dem Selbst, erfreut sich an dem Selbst, ist ein Selbstbeherrscher und genießt Freiheit in diesen Welten…
Aus dem Selbst dessen, der so sieht, denkt, erkennt, geht…diese ganze Welt hervor. So heißt es in einem Vers: ‘Nicht sieht der Sehende Tod, Krankheit oder Leid. Der Sehende ist das All. Das All erlangt er ganz.’ “
(Chandogya Upanisad)
Mit anderen Worten: Der Mystiker erfährt in der Versenkung nichts als sein Selbst. Aber dieses Selbst, seine Seele, ist nicht nur er, sein Wesenskern, es ist zugleich die eigentliche, allem zugrunde liegende Wirklichkeit, die sich hinter der Vielheit der Erscheinungen verbirgt, aus der alles hervorgeht und in die am Ende alles wieder eingehen wird. Ja, die Menschenseele – so ist der epochale denkerische Schritt, der in den Upanisads gegangen wird – ist ‘im Grunde’ identisch mit der Weltseele, dem Urgrund des gesamten Universums. Seit den Brahmanas sollte sich dafür ein zweiter Begriff durchsetzen, mit dem die Upanisads – manche Texte deuteten dies bereits an – den Begriff ‘Atman’ zusehends gleichbedeutend verwenden.”

Und über Identität finden wir für die Philosophie des Neuplatonismus folgendes Wort: “Zum wahren Selbstbesitz gelangt die Seele aber durch die im Lernen vollzogene Aneignung der Wissensgehalte, die ihr zunächst fremd gegenüberstehen, die sie sich aber im Lernvollzug zu eigen macht. Die Einung mit dem Wissensgehalt ist aber in Wahrheit die eigene Wesenaneignung – ‘er-innertes’ Wissen – , durch die sich gegenüber dem Taumel des Tuns zur ruhigen Schau erhebt.” (Volkmann-Schluck über den Neuplatonismus)

Einung heißt Aneignung all dessen, was der isolierten Seelenposition nicht bekannt ist. In der totalen Aneignung und Umfassung der Aspekte, derer sie defizient zu sein scheint, wird sie ganz – wird sie das Ganze, das alles ist und einzig ist. Alles kommt zu ihr, meint: Sie wird zu Allem, also zu ihrem Selbst in ihrem ursprünglichsten Ganz-Sein, und hierbei kommt es zu einem Durchgang durch das Bild.
Fichte: “Die ganze Sinneswelt entsteht nur durch das Wissen, und ist selbst unser Wissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum weil es Wissen ist. … Hast du kein anderes Organ, (die andere Realität) zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden.” (Die Bestimmung des Menschen)

Das vorhin gemeinte Wissen ist aber ein tiefes Wissen um Aneignung der noussphärischen Inhalte – beginnend bei der Sinneswelt, jedoch nicht dort verweilend.
Im hinduistischen Moksadharma der Gedanke einer totalen Umfassung, die auch die verschiedenen Ausprägungen der vielen Seins-Möglichkeiten zu integrieren bereit ist: “Als der eine kann er die Sinnendinge genießen und zugleich als ein anderer fruchtbare Askese üben, und wiederum, oh Freund, [alle seine Selbste] in eins zusammenfassen, wie die Sonne ihre Lichtfülle.”